Der goldene Schwarm - Roman
Blut«, sagt der Hüter. »Er ist das Ergebnis unserer Arbeit. Wir kennen jeden Millimeter von ihm. Die Entwürfe waren perfekt, die Materialien jedoch sind es nicht. Sie können es nicht sein. Also haben wir einen Ausgleich geschaffen. Kommt es Ihnen vor, als wäre alles aus einem Guss? Das ist nicht der Fall. Hier haben wir etwas abgeschliffen, dort etwas ausgestopft. Die Nieten sind nicht alle gleich. Sie sind so angeordnet, dass das Holz nicht splittert. Sie sind hier und da gelöst, um Ausdehnung zu ermöglichen. Die Maschine weiß nicht, wann sie verwundbar ist. Das mechanische Bohren hat keine Ahnung, wann es die Substanz zerstört, in die es eindringt. Aber wir wissen es. Wir spüren und lauschen. Wir berühren. Der Tastsinn ist weit genauer als das Sehvermögen.«
»Und all das macht Ihren Zug besser?«
Der Hüter zuckt mit den Schultern. »Es macht uns besser«, sagt er. »Oder zumindest sorgt es dafür, dass wir in unserem Bemühen und der Ausübung unserer Kunst nicht nachlässig werden. Wir erkennen die Unvollkommenheit der Welt an und gelangen so zu einem Bewusstsein unserer eigenen Stärken und Schwächen. Aber, doch. Das Ergebnis ist besser, vielleicht nur um einen einzigen Prozentpunkt besser, als wenn der Zug maschinell hergestellt worden wäre. Das macht sich nicht bemerkbar, bis es zur Belastung kommt. Man belaste den Zug, und er wird standhalten. Er wird mehr aushalten, als in seiner Konstruktion vorgesehen war, mehr als wir alle glauben können. Er wird mehr aushalten, als es alle Vernunft, alle Erwartung, alle Hoffnung für möglich halten. Man lasse ihn entgleisen, über Sand fahren, sich verkeilen und überhitzen. Er wird tun, was er für uns tun kann. Er wird durchhalten, als wäre er lebendig und erfüllt von Liebe. Und wenn er versagt, dann im großen Stil – heroisch –, und unsere Feinde wird er mit sich reißen. Weil er auf unsere Weise erbaut worden ist. Aber wir vertrauen darauf, dass es in diesem Fall so weit nicht kommen wird. Der Lovelace gehört nicht zur kämpfenden Flotte.«
»Aber die Cuparah .«
Der Hüter lächelt. »Auch die Cuparah wird halten.«
Beruhigend. Nur leider verrät es ihr nicht das Geringste über Amanda Baines’ Kahn. Mist.
Sechs Monate später steckt Edie Banister in flachen Schuhen und bescheidener Unterwäsche – wenn auch nicht komplett bescheiden, denn sie lässt lange Beine und inzwischen auch einen Hauch Fraulichkeit durchscheinen – und schwitzt und schuftet inmitten seltsamer Maschinen. Der Ada Lovelace ist eng und schwankt in unheimlichen Bewegungen hin und her, als hinge er ständig über einer Klippe. Während der ersten paar Wochen ist Edie deshalb ständig schlecht geworden, aber inzwischen bemerkt sie es kaum noch, außer wenn etwas kurz in seiner Halterung stecken bleibt und sich nicht mehr synchron zum Rest des Raumes bewegt. Der Klang von Metall, das gegen Metall schlägt, tönt unter ihren Füßen und wird immer wieder abgelöst vom plötzlichen Rauschen von Wellen und Wind. Edie spürt an ihren Fußgelenken einen segensreichen Schwall kühler Luft. Der Maschinenraum verliert jede Menge Hitze, wenn sie über eine Brücke fahren.
Die Chiffriermaschinerie – falls es sich um eine solche handelt – rülpst wie wild. Edies Haare sträuben sich, und sie spürt, wie Staub und Dreck ausgestoßen werden, um sich auf ihr niederzulassen. Verdrossen betätigt sie die Erdungsstange zu ihrer Linken, bevor sie die Hand ausstreckt, um die Stifte auszurichten und die Maschine mit einer neuen Kombination von Zahlen zu füttern.
Der Ada Lovelace ist der Ort, an dem Edie arbeitet und lebt und – zu ihrer Überraschung – zur Schule geht. Bevor im Hothouse 6 (die heimliche Bezeichnung für den Maschinenraum an Bord des Ada Lovelace ) ihre Schicht beginnt, verbringt sie jeden Morgen vier Stunden damit, alle möglichen Dinge zu lernen, die Mädchen normalerweise nicht wissen sollen, während der Zug leere Nebengleise und freie Stellen im Fahrplan nutzt, durch die britische Landschaft rast und an den Rändern der Landkarten entlangschlüpft.
Der Ada Lovelace , das hat sie so langsam verstanden, ist nur ein Teil eines eigentümlichen Musters, eines weit verzweigten Netzes aus Verbindungen. Nicht bei allen Teilen handelt es sich um Züge, aber jedes beherbergt mit Sicherheit einen Maschinenraum, der für diese Art von Zahlenentwirrung genutzt wird. Die Arbeit ist nicht auf das Entschlüsseln von Codes beschränkt, sondern schließt weit allgemeinere
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