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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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durch die Verbindungstür in Abel Jasmines Arbeitszimmer gelangen.
    Die Glocke läutet. Zeit aufzubrechen.
    »Ich muss noch flaffelbrummp kaddelwallen, okay?«, sagt Edie, und niemand achtet auf sie. In der Lady Gravely School hat sie gelernt, dass solches Kauderwelsch eine gute Methode darstellt, um zu lügen, ohne erwischt zu werden. Die Leute setzen einfach das ein, was ihnen sinnvoll erscheint, und haben – nachdem sie sich zu deinen Gunsten selbst etwas vorgemacht haben – nicht das Bedürfnis nachzuhaken. Edie dreht sich um.
    Clarissa Foxglove bückt sich recht unbefangen, um eine Spule Kupferdraht aufzuheben. Edie Banister, die kurz feststeckt, schiebt sich sachte an ihr vorbei, während sie sich große Mühe gibt, nicht das Schaben von Baumwolle an Baumwolle zu spüren oder die Konturen von Clarissas Po an ihren Hüften. Edie hört ein schwaches, derbes Kichern – es könnte auch ein erfreutes Stöhnen sein – und schüttelt den Kopf, um ihn freizubekommen.
    Ich muss sie mir später dringend vorknöpfen und das ausdiskutieren. Das lenkt wirklich sehr ab. Die ganze Sache verlangt nach einem klärenden Gespräch. Einer Lösung. Muss offengelegt werden. Wir sollten unser Innerstes freilegen.
    Ähm. Auf einem sanften Kissen …
    Zum Glück ist Clarissas Hinterseite nun sechs Meter entfernt, und die Tür zum Hauptkorridor und der Klappe liegt vor ihr. Die anderen Mädchen laufen in die entgegengesetzte Richtung.
    Edie hebelt die Klappe auf, und Luft rauscht herein. In ihren Ohren knackt es. Im Rest des Zuges wird es sich allerdings nicht bemerkbar machen, denn Edie hat bereits die hermetisch dichten Türen zwischen den Waggons geschlossen.
    Dieser Streckenabschnitt – den sie sorgsam ausgewählt hat – befindet sich irgendwo in Cambridgeshire. Es gibt hier keine Hügel, die überquert werden müssten, und durch die sich windenden Gleise wird auch die Fahrtgeschwindigkeit des Zuges einigermaßen beschränkt. Es ist allerdings düsteres, trübsinniges Moorgebiet, das sich – abgesehen davon, dass es keine zitternden Rentiere und kummervollen Bären gibt – topographisch kaum von Sibirien unterscheidet. Es ist also bitterkalt. Na, was soll’s. Sie hat sich im Vorfeld überlegt, ob sie heute bei der Arbeit zwei Schichten Unterwäsche tragen sollte, aber dadurch hätte sie nur noch mehr geschwitzt und schließlich umso schlimmer gefroren. Sie hat auch darüber nachgedacht, wenigstens einen Pulli hier zu verstecken, sich aber klargemacht, dass er wahrscheinlich entdeckt worden wäre. Die Entfernung ist vergleichsweise gering. Sie wird frieren, ja. Aber erfrieren wird sie nicht.
    Sie klammert sich an den Seiten des Schachtes fest und zieht sich hinauf.
    Sofort hat Edie das Gefühl, man habe gerade aus dem Waggon vor ihr einen Eimer eiskalten Wassers geschüttet. Die Luft klebt an ihr, ist kalt und trieft vor Feuchtigkeit. Sie nimmt ihr den Geruchssinn und drückt ihr die Haut gegen die Knochen. Fast lässt sie los und stürzt zurück in den Zug.
    Nein.
    Sie stemmt sich wieder hoch, wird hinaus in den Luftstrom gerissen und schlägt nach hinten zurück, wobei sie auf die Kante des Zugdachs zurutscht. Sie greift wild um sich und erwischt die Klappe des Schachtes, dann krümmt sie sich zusammen. Sie hat sich quer über den Fingern die Hand aufgerissen. Die Wunde ist nicht tief, aber schmerzhaft. Sie ist über und über mit Ruß bedeckt. Und an der beunruhigenden Taubheit in ihren Fingern erkennt sie, dass sie die Kälte unterschätzt hat.
    Sie kriecht gegen den Wind voran. Verdammt stur bist du, was? Ja , antwortet sie sich selbst. Ja, das bin ich .
    Eine halbe Minute später hat sie den nächsten Waggon erreicht. Ihre nackten Füße rutschen über die nasse Oberfläche, Zehen klammern sich an Nieten und Bolzenköpfen fest, Hände greifen nach Leitergeländern und vorstehenden Ecken, nach Belüftungsschornsteinen und Antennen. Zwanzig weitere Sekunden bis zum nächsten Waggon, und dann ist die Lok in Sichtweite: lang gestreckt, unheimlich, merkwürdig und finster. Aber was zum Teufel ist das für ein riesiges schwarzes Ding, das den Himmel verdeckt? Edie lässt sich flach auf den Bauch fallen, doch schon im nächsten Augenblick schlägt ihr eine peitschende Teufelshand über den Kopf, Finger wie Stacheln und Dornen, dann noch eine und noch eine. Eine erwischt ihren Rücken, kratzt und reißt an ihr.
    Au, au, au. Und, verdammt, ich mag diese Unterwäsche! Verschissene Scheiße. Haare hat sie auch eingebüßt. Sie

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