Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Adloff
Vom Netzwerk:
würde er seine Herkunft loswerden. Er hatte gedacht, mit der Zeit würde er die Vergangenheit hinter sich lassen und vergessen können, aber er hatte sich geirrt. Sie war in ihm, alles Erlebte hatte sich in ihm tief eingegraben. Er trug die Erinnerungen immer mit sich herum, und so sehr er auch dagegen ankämpfte, er konnte sie nicht abschütteln. Und schon gar nicht seinen Vater. Er blieb der Sohn des Haupträubers Lips Tullian.
    ***
    Eines Nachmittags spazierte Lips in die Heiliggeiststraße, wo der Medicus Dippel wohnte.
    Am Anfang der Straße hatte sich vor einem Haus eine Menschentraube gebildet. Eine Magd hatte auf dem Fischmarkt erzählt, wie sie in dem Haus ihrer Herrschaften von einem Poltergeist verfolgt wurde. Lips stand eine Zeit lang bei den Menschen, die Mäuler und Ohren aufsperrten und gedämpft sprachen, als hätten sie Angst, den Poltergeist auf sich zu ziehen. Er hörte von dem nächtlichen Schurren und Scharren des Geistes und überlegte, ob er wirklich zum Medicus Dippel gehen sollte, um diesen auszuspionieren. Dann musste Lips daran denken, dass Dippel ihm angedeutet hatte, dass er einen kundigen Chymicus brauchte für ein Laboratorium weit weg von Berlin. Dippel hatte ihn dabei angesehen, als wäre er damit gemeint. Vielleicht war es die Gelegenheit, dem Vater zu entkommen und diesmal wirklich ein neues Leben zu beginnen.
    Ein Knecht kam mit einem Prügel aus dem Haus und forderte die Menschen auf weiterzugehen. Sie wichen zurück und sammelten sich auf der anderen Straßenseite. Lips beobachtete, wie sich die Menschentraube wieder langsam näher schob und dachte in warmen Gedanken an Pfarrer Porstmann, wie dieser ihn in der Sprache der Römer lehrte und die teuren Versuche ermöglichte. Pfarrer Porstmann war der einzige Mensch, gegen den sein tiefes Misstrauen abgefallen war, dessen Nähe er herbeisehnte und den er bewunderte. Lips schlenderte weiter zum Haus von Dippel und klopfte.
    Ein Bediensteter öffnete und ließ Lips in der Vorhalle warten. Ein Verwesungsgestank lag in dem Haus, wie Lips ihn aus der Stube vom dummen Heinrich kannte. Dippel kam kurz darauf mit freudig ausgebreiteten Armen auf ihn zu und fragte nach seinem Befinden. Er befühlte seinen Arm und prüfte die Bänder der Schienung, dann führte er ihn in die obere Etage. Dippel öffnete eine Tür und lud ihn ins Laboratorium ein. Ein unerträglicher Gestank schlug Lips entgegen. Es stank süßlich-beißend wie auf dem Richtplatz, wo die Kadaver der Gerichteten vor sich hinfaulten und den Raben zur Speise gelassen wurden.
    »Ich musste mich auch erst daran gewöhnen!«, sagte Dippel und reichte Lips ein fein gewirktes Taschentuch mit Spitzenbesatz. »Halt's vor die Nase. Nach ein paar Minuten lässt es nach!«
    Der Raum war voll gestellt mit chymischen Apparaturen, Käfigen mit Hühnern und Ratten. In einer Ecke standen Körbe mit frisch zersägten Knochen, wie sie für eine Brühe gebraucht wurden. Auf dem Tisch in der Mitte des Laboratoriums lagen Instrumente zum Sägen, Schneiden und Kneifen und einige Bretter, auf denen Frösche und Ratten an den ausgestreckten Beinen festgenagelt waren – so, wie Jesus Christus in den Kirchen am Kreuz hing. Manchen Kadavern waren die Köpfe abgetrennt, Leiber waren aufgeschnitten und Sehnen und Muskeln bloßgelegt. Ein struppiger Straßenköter war an ein Tischbein gebunden und nagte an einem Knochen. Lips hob sich der Magen, und er musste gegen den Brechreiz flach anatmen.
    »Gottlob kennen die Tiere nicht den Leibesschmerz«, sagte Dippel. »Sie erschrecken sich nur und winden sich, weil sie zurück in die Natur möchten zu ihresgleichen. Sonst … ehm…« Dippel öffnete den Behälter eines Destillationsapparates mit weit verzweigten Kondensationsrohren und zeigte in das Innere. »Sonst würden die Tiere die Versuche auch nicht aushalten. Hier schau, der Apparat ist neu. Eine Erfindung von mir. Ich destilliere darin den Lebensgeist. Wenn der Lebensgeist aus der fleischlichen Hülle der Tiere entweicht, dann fang ich ihn in der Destille ein. Hier!« Dippel nahm eine verkorkte Flasche mit einer gelb-milchigen Flüssigkeit vom Tisch. »Du musst wissen, dass der Körper eine träge Materie ist, nur belebt durch einen umherschweifenden Geist, der den Körper jederzeit verlassen kann.«
    Lips hielt sich wieder das Taschentuch vor die Nase und blickte sich weiter um. Er kämpfte gegen den Brechreiz. In einer Ecke war ein Windofen in Bau, auch sah er Gefäße mit chymischen Materialien und

Weitere Kostenlose Bücher