Der Goldkocher
die Knechte zurück. Am Brunnen kühlte er sein Gesicht. Die Knechte standen in der Tür vom Viehstall und sahen zu ihm herüber. ›Nein, ich bin doch kein Schläger!‹, sagte er sich verzweifelt. Er war doch nicht wie der Vater, der alles mit Gewalt machte! Er verachtete ihn dafür, und jetzt prügelte er selbst herum! ›Verfluchter Vater!‹, hämmerte es in ihm. Lips atmete tief durch und blickte sich um: Anna war nicht mehr auf dem Hof.
***
Später machte Lips eine besonders lange Liste mit Materialen. Der Apothekengeselle hob verwundert die Augenbrauen, dass auch Ritterspornblumen, Zimt, Bibergeil und Polenwasser sorgsam verteilt auf der Liste standen, sagte aber wie üblich kein Wort. Noch am gleichen Tag fertigte Lips eine Arznei, um vorzeitige Wehen zu befördern. Am Abend klopfte es an der Tür. Er kannte Annas Klopfen noch von damals, als sie Böttger das Essen gebracht hatte. Sie sahen beide aneinander vorbei, als Lips die Einnahme erklärte. Von der Seite sah er die breit ausgezackte schwarze Narbe, die ihr schönes Gesicht zerstörte, und schämte sich wie ein geprügelter Hund.
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Die Mildtätigkeit der Frau Zornin hatte nach ihrer religiösen Erweckung zugenommen und sich bald unter den Bettelleuten herumgesprochen. Jeden Abend fand sich vor dem Hoftor eine Schar Bettler ein: Vorne standen die kräftigsten Männer und Soldatenkrüppel, dann folgten die Frauen mit ihren Kindern, dahinter drängten die Waisenkinder und ganz hinten die Betteljuden. Als Lips einmal zum Abendtisch ging, sah er, wie der Hausknecht wie üblich aus der Schar drei auswählte. Von hinten winkte er auch den Schnurr Juden Levi vor, der schon öfter am Betteltisch gesessen hatte und der dann gegen eine Suppe und ein Stück Brot die Neuigkeiten erzählte, die er auf seiner Wanderschaft von Betteltisch zu Betteltisch aufschnappte.
Lips beobachtete den Schnurrjuden Levi, wie dieser am Tisch stand und darauf wartete, welchen Platz ihm die beiden anderen Bettler lassen würden, und er überlegte, ob dieser vielleicht die Apotheke für den Vater ausspionierte. Auch Arnold hatte damals die Schnurrjuden für geheime Nachrichten an die Hehler benutzt. Denn die Schnurrjuden auf den Landstraßen hatten eine ausgeklügelte Ordnung untereinander und tauschten in Windeseile gegenseitig Botschaften aus, weswegen sie auch oft von den Kochemern in Dienst genommen wurden. Selbst aus schwer bewachten Kerkern brachten sie Briefe heraus und hatten schon so manchen Ausbruch ermöglicht. Vielleicht ließ ihn der Vater ja auch beobachten!
Der Schnurrjude Levi erzählte, er wäre gerade aus Sachsen gekommen, und alle horchten mit spitzen Ohren zu, wie er von Böttger berichtete. Im Grunde war aber nichts Neues zu hören: Böttger wäre Tag wie Nacht unter starker Bewachung und würde wie im Rausch herumlaborieren. Der König wäre ganz unruhig wegen des erwarteten Goldsegens, den Böttger versprochen hatte. Der Schnurrjude erzählte noch von Hoffesten und Maskeraden, zu denen der König sogar das Volk einladen würde. Aber dann sprach er davon, dass das Land nun von der größten Plage überhaupt befreit wäre: Die Sachsen hätten endlich den berüchtigten Haupträuber Lips Tullian aufgegriffen und eingekerkert. Lips konnte nur mühsam seine Neugierde beherrschen. Der Vater war wieder im Kerker!
»Hör mal, Lips!«, rief der Viehknecht, der sich seit der Prügelei gut mit ihm zu stellen versuchte. »Dein Namensvetter!«
Der Knecht Bohne drehte dem Viehknecht eine Nase. »Du Blödmann denkst wohl, dass der sich über so einen Namensvetter freut!«
»Sie haben diesen Tullian einige Male auf die Folter gespannt«, erzählte der Schnurrjude Levi weiter. »Aber der Kerl hat standgehalten. Durch alle Grade!«
»Wenn der Tullian nichts gesteht, dann müssen sie ihn wieder loslassen!«, sagte der Viehknecht.
»Irgendwann gesteht jeder!«, sagte der Knecht Bohne.
»Nee«, sagte der Viehknecht, »meinen Schwager haben sie auch wieder rausgelassen!«
»Aber dem hatten sie doch nur die Marterinstrumente gezeigt!«, sagte Bohne. »Das ist ein Unterschied!«
»Aber sie haben ihn rausgelassen!«, beharrte der Viehknecht. »Weil er nichts gesagt hat!«
»Die werden den … werden den Tullian…«, sagte der Hausknecht. Seit dem Überfall hatte er ein nervöses Zucken um den Mund, und die Knechte mieden die Blicke der anderen, um nicht loszuprusten, denn er musste ähnlich wie ein Stotterbock mehrere Anläufe nehmen, bis der Satz herausgebracht war.
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