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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Adloff
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wussten sich nicht zu erinnern, wann es jemals einen solchen schneereichen Winter gegeben hatte. Die Leute schaufelten sich morgens aus ihren Häusern und sahen besorgt hoch zu den Dächern, ob sie den Schneemassen standhielten. Lips stand manchmal am Fenster, vor dem die Schneewülste hochwuchsen, hauchte ein Loch in die Eisblumen und sah den Kindern zu, wie sie sich mit Schneebällen durch die geschaufelten Wege jagten. Er musste in diesen Wintertagen an die Grabich-Schenke denken, wie er mit Rotkopf das Eis am Bach zertreten und sie davon gelutscht hatten. Rotkopf, der ihn wegen des Schreibzeugs an Frieder verraten hatte.
    »Noch einmal!«, versprach Böttger dann wieder. »Dann hab ich's!«
    Er holte Lips noch öfter ab, damit er nachts im Laboratorium half. Lips fieberte darauf, so übernächtigt er auch war, und sog alles begierig in sich hinein, was seinen Hunger nach geistiger Nahrung stillte. Manchmal war ihm vor Müdigkeit ganz schwindelig. Er probierte mit der Handwaage und lernte die Gewichte. Er wiederholte im Stillen die lateinischen Namen der Wasser, Puder, Erze und Chemikalien, ihre Quantitäten und die Reihenfolge, in der Böttger sie zusammenmischte. Nach einiger Zeit ging Lips diesem so geschickt zur Hand, dass Böttger manchmal verwundert von seinen Aufzeichnungen aufsah, wenn Lips ohne seine Anweisung den feuchten Schwefel zum Trocknen nahe an die Feuerstelle stellte.
    Böttger stellte Versuche aus Büchern nach, die er wahllos zu verschlingen schien. Zwei Nächte hintereinander kochten sie an einem falschen Goldfirnis aus feinstem Gummi-Laccae in granis 8 Lot, Gummi Sandaraca 2 Lot und anderen Chemikalien, die Böttger unter seiner Jacke herbeigetragen hatte, dann schmiss er wutentbrannt den Tiegel gegen die Wand. Eine zähe, stinkende Masse ohne jeden Goldglanz lief hinunter auf den Boden. Sie horchten ins Haus, aber über ihnen regte sich nichts.
    Dann verkündete Böttger auf einmal, er werde einen sehr reinen Smaragd von ungeheurer Größe aus Weinsteinsalz, Sodasalz und einigen anderen Chemikalien und Erzen schmelzen. Von dem Verkauf würde er sich ein eigenes Laboratorium einrichten, dann könne ihn der Herr Apotheker aber mal! Sie hockten die halbe Nacht stumm vor dem Windofen. Böttger trank dabei zwei Flaschen Wein und war danach ganz zerknirscht, weil die Probe wieder nicht gelungen war, und schimpfte über den Afterchymicus, von dessen hohlem Geschwätz er sich zu einem unnützen Versuch hatte ablenken lassen. Tagsüber kam Böttger jetzt oft aus der Offizin in die Stoßkammer. Völlig erschöpft legte er seinen Kopf auf den Tisch und ließ sich von Lips wecken, sobald der Hausknecht oder der Apotheker zu sehen waren.
    Wenn alle Arbeit getan war, rückte das Gesinde abends um die Feuerstelle zusammen. Lips hörte dem Knistern und Prasseln des Feuers zu und dachte manchmal etwas wehmütig an die Grabich-Schenke. Er wusste nicht genau, warum, denn er hatte es doch so gut in der Apotheke getroffen. Hier war sein neues Zuhause. Alles hatte eine Ordnung, und es gab auch keine Schlägereien um die warmen Schlafplätze am Feuer. Wie oft hatte Lips sich mit Rotkopf unter der Treppe oder gar im kalten Viehstall verkrochen, weil die Männer über die Winterwochen von der stickigen Enge und dem Branntwein ganz gereizt wurden und bei geringstem Anlass um sich schlugen. Nein, er hatte jetzt ein neues Leben ganz ohne Rauben und Stehlen begonnen und war nun unter rechtschaffenen Menschen. Wenn der Hausknecht nicht zu sehen war, würfelten Bohne und der Viehknecht immer um kleine Münzen. Vielleicht war es der Klang der Würfel, der Lips in Erinnerung an Arnold wehmütig stimmte.
    Ganz plötzlich und aus nichtigem Anlass, es genügte schon, wenn der Viehknecht eine Flasche Branntwein aus seinem Wams zog und der Knecht Bohne danach grapschen wollte, dann sah Lips plötzlich den Vater, der der Mutter die Flasche Branntwein abforderte. Es pochte und rauschte auf einmal in Lips' Kopf, als würden sie ihn fortschleifen. Die Bilder stiegen in ihm hoch, es wollte wieder ausbrechen, und er spürte seinen Herzschlag, ›Rausschlagen werd ich dir den Willen!‹, schrie der Vater. Lips meinte zu bersten. Er sah die Daumenschraube und hörte sich stumm um Hilfe schreien, aber da war niemand. Er sah Arnold, der am Seil hing, der Mund wurde ihm trocken, und die Zunge klebte am Gaumen. Ihm wurde der Atem ganz schwer, er musste sich bezwingen und drehte sich vom Feuer weg ins Dunkel der Gesindestube, sodass niemand

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