Der Gott von Tarot
Finger griffen nach der Messerklinge. Paul drehte seinen Arm einwärts, als tanze er ein Menuett. Als er die Drehung vollendet hatte, umschloß er mit beiden Händen den Arm des Mannes und bog grausam hart dessen Handgelenk ab. Er setzte die Hebelwirkung an.
Mit einem Aufschrei, aus Überraschung und Schmerz gemischt, fiel der Mann zu Boden. Das war auch gut so, denn wenn er standgehalten hätte, wäre das Handgelenk ausgebogen worden. Mit diesem Griff konnte ein Kind einen hundertachtzig Kilo schweren Sumoringer aus dem Gleichgewicht bringen.
Paul drehte den Arm des Mannes herum und zwang ihn, mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster liegenzubleiben. Er nahm den herabfallenden Pfeil auf und stieß ihn in den entblößten Hals des Mannes. Ein paar Sekunden lang mußte er warten, bis der Körper schlaff wurde. Dann ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. Der Mann stand nicht wieder auf. „Nicht persönlich gemeint, mein Freund“, sagte Paul und fügte hinzu: „Gott schütze dich.“ Dann ging er fort.
Nun wußte er, was abzusehen gewesen war: Das Kartell ließ ihn nicht einfach so gehen. Sein Leben war in Gefahr, ganz gleich, was mit seinem Gedächtnis passierte. Er mußte sich verstecken, ehe die nächste Totschlägerbande ihn fing. Oder die Bullen.
Sie war Wahrsagerin aus einer uralten Schule: eine Frau von unbestimmtem Alter mit großen, dunklen Augen. Sie trug ein langes Gewand, das mit rätselhaften Symbolen bestickt war, und saß in einem verhangenen, düsteren Raum an einem Tisch mit einer echt falschen Kristallkugel. Die moderne Technologie hatte sich eingeschlichen. Das Kristall enthielt ein beleuchtetes Hologramm einer Landschaft im Dämmerlicht, mit einem Vollmond über knorrigen Eichen.
„Deine Karte“, murmelte sie.
„Nein … ich habe keine Karte“, erwiderte Paul. Er wußte, daß man ihm den Kredit abgeschnitten hatte, und selbst ein Versuch, ihn weiter auszuschöpfen, würde ihm die Verfolger auf die Fersen hetzen. Es war die große Stunde der Technokraten gewesen, als man das Kreditsystem universell einführte, denn jedermann mußte irgendwann etwas ausgeben, um leben zu können, und wenn er etwas ausgab, war er identifiziert. Es war bequemer geworden, aber dies geschah auf Kosten der Freiheit. Die Furcht von Schwester Beth, durch das Computersystem geschnappt zu werden, wurde nun zu seiner eigenen.
Schwester wer? Verfolger? War er in Schwierigkeiten? Er konnte sich nicht erinnern.
„Dann Geld bitte“, sagte sie resigniert. Bargeld war ein unsicheres Mittel; es war leicht zu fälschen und bot keinen Beweis für Identität. Aber eine Wahrsagerin konnte kaum wählerisch sein.
Paul griff tief in die Tasche und fand ein bißchen Kleingeld: zwei Fünfzigdollarnoten und eine Fünfundzwanziger-Note. Er legte sie auf den Tisch neben die Kristallkugel.
Sie seufzte. Das war nicht genug – aber auch hier war sie gezwungen anzunehmen, was sie bekommen konnte. Heute war offensichtlich ein schlechter Tag. „Setz dich.“
Paul setzte sich. „Ich weiß nicht, warum ich hier bin“, sagte er.
„Das werden wir herausfinden.“ Sie blickte in die Kristallkugel, und das Hologramm veränderte sich, wurde zu einem bunten Farbenwirbel. Das war das Tolle bei vielfacettigen Hologrammen: Die kleinste Bewegung der Kugel veränderte den Blickwinkel und brachte ein neues Bild hervor. Aber das war auch verwirrend, denn der dreidimensionale Effekt litt, wenn die Bewegung auf der vertikalen Ebene zwischen den beiden Augen geschah, und brachte verschiedene Bilder hervor. Man mußte die Kugel etwas kippen. Allgemein standen die Facettenlinien horizontal zueinander, so daß beide Augen den gleichen Blickwinkel hatten,
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