Der Gottesschrein
entgegenbrandet, und werden bis zum Salbungsstein zurückgedrängt.
Der Kampf weitet sich aus. Die Christen schlagen mit ihren Kerzen auf die Muslime ein. Heiße Wachstropfen werden mir ins Gesicht geschleudert und gerinnen in meinem Haar.
Eine Kerze nach der anderen verlöscht, und es wird immer dunkler in der Grabeskirche. Ich zwinge mich dazu, tief durchzuatmen.
Ganz ruhig! Nicht den Kopf verlieren!
Kampfeslärm erfüllt die Kirche. Flüche auf Griechisch, Italienisch und Kastilisch. Wehklagen. Stöhnen. Und ein arabischer Schrei: »Stirb, du verfluchter Kreuzanbeter!«
Irgendwo in diesem furchtbaren Armageddon, in diesem Kampf des Menschen gegen Gottes Gebot und gegen Besonnenheit und Vernunft, weint und schluchzt ein kleines Kind.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Gott im Himmel, was ist mit den Jungen, die vor dem Portal auf mich warten? Sie sind in Gefahr! Ich muss sie …
»Allahu akbar!« Plötzlich geht ein muslimischer Gotteskrieger mit erhobenem Dolch auf mich los. Mit beiden Händen packe ich sein Handgelenk, fange den Stoß ab, lenke den niedersausenden Arm von mir weg und nutze den Schwung, um den Mann zum Stolpern zu bringen und die Hand mit dem Dolch mit aller Gewalt gegen die Säule hinter mir zu schmettern, einmal, zweimal, dreimal – Tayeb hat mich diesen Griff gelehrt, während wir uns auf unsere geplante Expedition nach Timbuktu vorbereiteten.
Der überrumpelte Angreifer schreit vor Schmerz und lässt den Dolch fallen. Mit dem Fuß taste ich nach der Klinge – da ist sie! – und trete sie weg. Unterdessen ziehe ich meinen Dolch und bedrohe ihn damit. Mit weit aufgerissenen Augen und erhobenen Händen weicht er vor mir zurück. Dann ist er in der wogenden Menge verschwunden.
Eine Berührung an meiner Schulter!
Zu Tode erschrocken wirbele ich herum.
Fra Girolamo da Salerno hat seine Hand auf meinen Arm gelegt. In der Finsternis kann ich sein Gesicht kaum erkennen. »Ich habe Euch gesucht – ich dachte mir, dass Ihr hier seid!«, ruft mir der Franziskaner auf Italienisch zu. »Seid Ihr verletzt?«
»Nein. Ich kann mich wehren.«
»Dann kommt, ich bringe Euch hier heraus!«
»Als Gott den Glauben und die Frömmigkeit erfand, erschuf er aus Versehen den Wahn und die Gewalt!«, murmele ich verbittert, als ich mich zu den Kämpfenden umwende. »Wie kann er zulassen, dass die Menschen sich in seinem Namen, im Namen Gottes!, gegenseitig totschlagen? Das ist …«
»Kommt jetzt! Ihr müsst die Grabeskirche verlassen! Ihr seid in Lebensgefahr!« Der Frater ergreift meine Hand und zerrt mich hinter sich her in Richtung des Franziskanerkonvents im rechten Seitenschiff. Meine Kerze mit dem göttlichen Licht verlischt.
»Dort ist die Treppe zum Dach!« Fra Girolamo deutet auf die schlecht beleuchteten Stufen. »Steigt hinauf, umrundet die Kuppel über dem Heiligen Grab, überquert die Golgatakapelle, und geht hinüber zum Dach der Johanneskapelle. Von dort könnt Ihr in den Vorhof hinunterspringen. Gott schütze Euch!«
Ich zögere. »Und Ihr?«
Ungelenk schiebt er die Ärmel seines Habits hoch und zeigt mir die Stigmata an seinen Händen. »Was soll mir noch geschehen?«
· Yared ·
Kapitel 34
In Uthmans Gemächern in der Zitadelle
17. Dhu’l Hijja 848, 20. Nisan 5205
Karsamstag, 27. März 1445
Elf Uhr morgens
Beunruhigt betrete ich nach der Audienz des Imams Uthmans Arbeitszimmer. »Benyamin sagte mir, du wolltest mich sprechen.«
Der Diener schließt leise die Tür hinter mir.
»Wie geht es dem Sultan?«, bedränge ich Uthman, sobald wir allein sind. »Hast du eine Nachricht von Jadiya?«
Besorgt schüttelt er den Kopf und hebt beide Hände. »Nichts.«
Die neunundneunzig indischen Perlen klicken leise, während Uthman die Tasbih-Gebetskette durch die Finger gleiten lässt. Im Stillen rezitiert er das Dhikr, das Gedenken der neunundneunzig Namen Allahs, und betet um das Leben seines Vaters.
Ich atme tief durch.
»Setz dich!« Uthman deutet auf den Diwan ihm gegenüber. »Der Gesandte des Sultans von Gharnata war gerade bei mir. Harun Ibn Ezra.«
»Sieh mal einer an. Was wollte er?«
»Dass ich Vater überrede, den gestürzten Sultan Muhammad zu unterstützen, damit er die Alhambra zurückerobern kann.«
»Und? Was hast du ihm geantwortet?«
»Dasselbe wie du.«
»Aron war enttäuscht«, vermute ich.
»Und wie! Hoffnungslos und verzweifelt. Er fürchtet, dass die Kastilier Gharnata erobern und dass die Reconquista nicht mehr aufgehalten werden kann, wenn wir Muhammad
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