Der Gottesschrein
tragen.
Athenagoras öffnet die Tür zum Arbeitszimmer des Patriarchen. »Kyria Alessandra ist hier, Euer Seligkeit.«
Entsetzt ziehe ich die Luft ein, als ich den völlig verwüsteten Raum betrete. Der Patriarch, der noch immer das Brokatgewand der Karsamstagsliturgie trägt, steht am Fenster und blickt reglos hinunter in den Kreuzgang. Seine Patriarchenkrone liegt neben ihm auf dem Fenstersims. Als ich eintrete, dreht er sich zu mir um und kommt mir entgegen, um mir seine Hand zu reichen. »Ich bin erleichtert, dass Ihr hier seid, Kyria Alessandra.«
»Wann ist das geschehen?« Ich deute auf die verstreuten Pergamente auf dem Boden und auf die schweren Folianten, die von seinem Schreibtisch geworfen wurden. Selbst die goldschimmernden Ikonen des segnenden Pantokrators Iesous Christos, der Theotokos Maria und des Täufers Ioannis wurden auf der Suche nach einem Geheimversteck von der Wand gerissen und geschändet. Iesous Christos ist das Evangelion entrissen worden, das er im Arm gehalten hat – seine Ikone ist in zwei Teile zerbrochen.
Ich hebe die Ikonen auf und lege sie auf den Schreibtisch.
»Vor einer Stunde«, entgegnet der Patriarch mit bebender Stimme. »Als ich mit meinen Priestern und Diakonen in der Grabeskirche war. Das Patriarchat war nahezu verlassen.«
»Ist Mar Abdul Masihs Papyrusrolle gestohlen worden?«
Er starrt mich entgeistert an. »Ihr wisst, dass ich sie habe?«
»Der Abt der Markuskirche hat mir erzählt, dass Mar Abdul Masih Euch gestern Nacht noch aufgesucht hat. Er brachte Euch die Baruch-Apokalypse, nicht wahr?«
Joachim nickt. »Wir kennen uns seit Jahren. Wenn ich ihn zum Abendessen einlade, disputieren wir bei einem Becher Wein über Theologie und Philosophie.« Er besinnt sich. »Mar Abdul Masih war gestern Abend sehr beunruhigt … aufgewühlt … panisch.«
»Wegen des Papyrus?«
»Nein, wegen des Christusritters. Er fürchtete, dass dieser … wie hieß er noch?«
»Dom Tristão de Castro.«
»… dass dieser Dom Tristão auf Befehl des Infante von Portugal nach dem jüdischen Tempelschatz sucht, um seinen Kreuzzug gegen den Islam zu finanzieren. Der Papyrus soll das Versteck dieses Schatzes bezeichnen. Mar Abdul Masih hat Angst, dass der Ritter Christi ihn zum Schweigen bringen will, sobald er den Papyrus in Händen hält. Das Ansehen und der Ruhm des Christusordens stehen auf dem Spiel.«
»Das Kreuz der Unschuld trieft vor Blut. Mar Abdul Masih ist tot.«
»Gott der Allmächtige sei ihm gnädig!«, flüstert Joachim bleich und birgt das Gesicht in beiden Händen. Dann spricht er ein kurzes Gebet.
»Seine Zelle war ebenso verwüstet wie Euer Arbeitszimmer.«
Joachim nickt stumm.
»Euer Seligkeit, wo ist die Baruch-Apokalypse?«
Er atmet tief durch. »Kommt mit.«
Mit schnellen Schritten führt er mich die Treppe hinunter und den Kreuzgang entlang zu einer Tür und stößt sie auf. Er betritt den Raum und bleibt so unerwartet stehen, dass ich mit der Schulter beinahe gegen ihn pralle.
»Heilige Theotokos!«, stöhnt er verzweifelt und ringt die Hände.
Ich schiebe mich an ihm vorbei und halte entsetzt den Atem an. Die großartige Bibliothek ist nur noch ein riesiger Haufen durcheinandergeworfener, zerknickter und zerrissener Folianten und Schriftrollen.
»Um Gottes willen!« Seufzend hebe ich einen uralten Codex auf. Der Papyrus zwischen den hölzernen, mit Leder bespannten Buchdeckeln ist zerfetzt. Das lähmende Gefühl der Ohnmacht verwandelt sich in Hass und Zorn.
»Wenn Ihr meine Unterstützung beim Wiederaufbau Eurer Bibliothek benötigt, Euer Seligkeit, stehe ich Euch während meines Aufenthalts in Jerusalem gern zur Verfügung.«
Joachim kämpft mit den Tränen – so bestürzt ist er über die Vernichtung seines großartigen Bücherschatzes. »Das ist sehr freundlich von Euch«, murmelt er heiser.
»Einige der Bücher, die über tausend Jahre alt sind, müssen dringend restauriert werden. Sie zerfallen sonst zu Staub. Ich könnte sie mit nach Florenz nehmen und in meinem Scriptorium wiederherstellen lassen. Nachdem meine Schreiber sie kopiert haben, erhaltet Ihr sie in einigen Monaten zurück. Ich werde Euch keine Rechnung schicken.«
»Ihr seid sehr großzügig.« Er fährt sich durch den langen Bart. »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet.«
Ich winke ab. »Nicht der Rede wert. Das Geheimarchiv des Vatikans war genauso verwüstet, als ich an jenem Morgen meinen Freund Leonardo neben einem blutigen Kreuz der Unschuld fand. Dom Tristão hat nicht
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