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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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sind nicht gezielt gestaltet, aber die darwinistische natürliche Selektion macht auch bei ihnen eine Form des Gestaltungsstandpunktes möglich. Das Herz verstehen wir schneller, wenn wir unterstellen, dass es dazu »gestaltet« ist, Blut zu pumpen. Karl von Frisch fühlte sich veranlasst, das Farbensehen der Bienen zu erforschen (zuvor herrschte allgemein die Ansicht, sie seien farbenblind), weil er davon ausging, die bunten Farben der Blüten seien so »gestaltet«, dass sie Insekten anlocken. Die Anführungszeichen sollen verlogene Kreationisten abschrecken, die sonst den großen österreichischen Zoologen als einen der Ihren vereinnahmen würden. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass von Frisch hervorragend in der Lage war, den Gestaltungsstandpunkt in richtige darwinistische Begriffe zu übersetzen.
    Eine weitere Abkürzung ist der intentionale Standpunkt , und der geht noch einen Schritt weiter als der Gestaltungsstandpunkt. Man unterstellt, ein Gebilde sei nicht nur für einen bestimmten Zweck gestaltet, sondern es sei oder enthalte eine Instanz, einen Agenten , der sein Verhalten absichtsvoll steuert.
    Wenn wir einen Tiger sehen, sollten wir mit unserer Voraussage über sein mutmaßliches Verhalten nicht lange zögern. Die Physik seiner Moleküle? Egal. Die Gestaltung seiner Gliedmaßen, Klauen und Zähne? Egal. Die Katze will uns fressen, und sie wird ihre Gliedmaßen, Klauen und Zähne vielseitig und fantasievoll einsetzen, um diese Absicht zu verwirklichen. Der schnellste Weg zur Einschätzung ihres Verhaltens lässt Physik und Physiologie außer Acht und geht sofort vom intentionalen Standpunkt aus. Was dabei wichtig ist: Genau wie der Gestaltungsstandpunkt sich auch auf Dinge anwenden lässt, die nicht gestaltet sind, so funktioniert auch der intentionale Standpunkt sowohl bei Dingen, die keine bewussten Absichten haben, als auch bei solchen, die sie besitzen.
    Mir erscheint es völlig plausibel, dass der intentionale Standpunkt als Gehirnmechanismus einen Überlebensvorteil bietet: Er beschleunigt Entscheidungsprozesse in gefährlichen Augenblicken und entscheidenden zwischenmenschlichen Situationen. Dagegen leuchtet nicht sofort ein, dass der Dualismus eine notwendige Begleiterscheinung des intentionalen Standpunkts ist. Ich möchte das Thema hier nicht weiter vertiefen, aber nach meiner Überzeugung sollte man eine Argumentation entwickeln, wonach hinter dem intentionalen Standpunkt eine Art Theorie über den Geist anderer steht, die man mit Fug und Recht als dualistisch bezeichnen könnte; das gilt vermutlich insbesondere in komplizierten zwischenmenschlichen Situationen und vor allem dann, wenn Intentionalität höherer Ordnung ins Spiel kommt.
    Dennett spricht von Intentionalität dritter Ordnung (der Mann glaubt, dass die Frau weiß, dass er hinter ihr her ist), vierter Ordnung (der Frau wird klar, dass der Mann glaubte, sie wisse, dass er hinter ihr her war) und sogar fünfter Ordnung (der Schamane vermutet, der Frau müsse klar geworden sein, dass der Mann glaubte, die Frau wisse, dass er hinter ihr her war). Intentionalität sehr hoher Ordnung gibt es wahrscheinlich nur in der Literatur, als Satire beispielsweise in dem vergnüglichen Roman The Tin Men (Blechkumpel) von Michael Frayn:

    Als er Nunopoulos so betrachtete, wusste Rick, dass Anna mit ziemlicher Sicherheit Fiddlingchilds Mangel an Verständnis für ihre Gefühle Fiddlingchild gegenüber leidenschaftlich verachtete, und auch ihr war klar, dass Nina wusste, dass sie selbst über Nunopoulos’ Wissen Bescheid wusste …
    Aber die Tatsache, dass uns solche verwickelten Vermutungen über das Denken anderer zum Lachen reizen, sagt vermutlich etwas Wichtiges darüber aus, wie unser von der natürlichen Selektion gestalteter Geist in der Realität funktioniert.
    Zumindest auf seinen unteren Ebenen spart der intentionale Standpunkt wie der Gestaltungsstandpunkt viel Zeit, und das kann über Leben und Tod entscheiden. Deshalb hat die natürliche Selektion unser Gehirn so geformt, dass wir uns des intentionalen Standpunktes als Abkürzung bedienen. Wir sind biologisch darauf programmiert, Gebilden, deren Verhalten für uns wichtig ist, eine Absicht zu unterstellen. Auch hier führt Paul Bloom experimentelle Befunde an, wonach Kinder besonders gern den intentionalen Standpunkt einnehmen. Wenn ein Baby sieht, wie ein Gegenstand einem anderen (beispielsweise auf einem Computerbildschirm) folgt, geht es davon aus, dass es eine

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