Der Gotteswahn
andere als ein gutes Vorbild sehen. Die Verlockungen sexueller Untreue sind auch für diejenigen, die ihnen nicht erliegen, ohne weiteres zu verstehen, und sie sind ein Hauptthema für Romane und Dramen von Shakespeare bis zur Schlafzimmerkomödie. Für die offenbar unwiderstehliche Versuchung, sich mit fremden Göttern einzulassen, haben wir modernen Menschen dagegen nicht ohne weiteres Verständnis. »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« ist in meinen naiven Augen ein Gebot, das sich sehr leicht einhalten lässt; man könnte meinen, es sei ein Klacks im Vergleich zu »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib«. Oder seinen Esel. Oder sein Rind. Und doch muss Gott im gesamten Alten Testament mit der gleichen vorhersehbaren Regelmäßigkeit wie in einer Schlafzimmerkomödie den Kindern Israel nur einen Augenblick lang den Rücken zuwenden, und schon sind sie mit Baal zugange, oder mit einem Flittchen von Götzenbild [42] – oder, bei einer unheilvollen Gelegenheit, mit einem goldenen Kalb …
Noch mehr als Abraham dürfte Mose den Anhängern aller drei monotheistischen Religionen als Vorbild gedient haben. Abraham mag der ursprüngliche Patriarch gewesen sein, aber wenn man jemanden als den Begründer der Lehre des Judentums und der von ihm abgeleiteten Religionen bezeichnen kann, dann ist es Mose. Als sich die Episode mit dem goldenen Kalb abspielte, war Mose in sicherer Entfernung auf dem Weg zum Berg Sinai, wo er Zwiesprache mit Gott hielt und von ihm die behauenen Steintafeln erhielt. Die Menschen unten in der Ebene (denen es bei Todesstrafe untersagt war, sich dem Berg auch nur zu nähern) vergeudeten keine Zeit:
Als aber das Volk sah, dass Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns einen Gott, der vor uns hergehe! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist … (2. Mose 32,1).
Aaron lässt sich von allen das Gold geben, schmilzt es ein und macht daraus ein goldenes Kalb. Für diese neu erfundene Gottheit baut er einen Altar, sodass alle ihr opfern können.
Nun ja, eigentlich hätten sie sich denken können, dass sie nicht hinter Gottes Rücken solche Faxen machen durften. Er ist zwar gerade im Gebirge, aber schließlich ist er allwissend und schickt sofort Mose los, um sich Geltung zu verschaffen. Mose eilt hektisch den Berg hinab, im Gepäck die Steintafeln, auf denen Gott die Zehn Gebote niedergeschrieben hat. Als er ankommt und das goldene Kalb sieht, wird er so wütend, dass er die Tafeln fallen lässt, sodass sie zerbrechen. (Später gibt Gott ihm eine Ersatzgarnitur, und alles ist gut.) Mose nimmt das goldene Kalb an sich, verbrennt es, zermahlt es zu Pulver, vermischt es mit Wasser und lässt die Leute es schlucken. Dann weist er alle Angehörigen des Priesterstammes Levi an, Schwerter zu nehmen und so viele Menschen wie möglich umzubringen. Die Gesamtzahl der Opfer beläuft sich auf dreitausend – genug, so sollte man meinen, um Gottes Eifersuchtsanfall zu beschwichtigen. Aber nicht doch: Gott ist immer noch nicht fertig. Im letzten Vers dieses entsetzlichen Kapitels schickt er denen, die vom Volk noch übrig sind, zum Abschied eine Plage, »weil sie sich das Kalb gemacht hatten, das Aaron angefertigt hatte«.
Das Vierte Buch Mose berichtet, wie Mose von Gott angestachelt wird, die Midianiter anzugreifen. Seine Armee macht kurzen Prozess, schlachtet alle Männer ab und brennt die Städte des gegnerischen Stammes nieder. Frauen und Kinder jedoch werden verschont. Über diese gnädige Selbstbeschränkung der Soldaten ist Mose wütend: Er erteilt den Befehl, auch alle männlichen Kinder umzubringen, ebenso alle Frauen, die keine Jungfrauen sind: »Aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben« (4. Mose 31,18). Nein, Mose war für moderne Moralisten sicher kein gutes Vorbild.
Wenn heutige religiöse Autoren dem Massaker an den Midianitern überhaupt eine symbolische oder allegorische Bedeutung beilegen, so zielt diese genau in die falsche Richtung. Soweit man es aus dem biblischen Bericht entnehmen kann, wurden die unglückseligen Midianiter in ihrem eigenen Land zu Opfern eines Völkermordes. Dennoch lebt ihr Name in der christlichen Überlieferung nur in einem beliebten Kirchenlied weiter (das ich auch nach fünfzig Jahren noch auswendig auf zwei verschiedene Melodien singen kann, die beide in tristen Molltonarten stehen):
Christian, dost thou see them
On the
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