Der Gotteswahn
Binker-Phänomen ist ein gutes Modell, wenn man den theistischen Glauben Erwachsener verstehen will. Ob Psychologen die Frage aus diesem Blickwinkel bereits untersucht haben, weiß ich nicht, aber es wäre ein lohnendes Thema für die Forschung. Gefährte und Vertrauter, ein Binker fürs Leben, das ist sicher eine der Rollen, die Gott spielt – und an dieser Stelle würde eine Lücke klaffen, wenn es Gott nicht mehr gäbe.
Ein anderes Kind, ein Mädchen, hatte einen »kleinen lila Mann«, der ihr wirklich und sichtbar anwesend zu sein schien und der mit einem leisen Klingeln funkelnd aus Luft Gestalt gewann. Er besuchte sie regelmäßig, besonders wenn sie sich einsam fühlte; aber je älter sie wurde, desto seltener geschah es. An einem bestimmten Tag, kurz bevor sie in den Kindergarten kam, suchte der kleine lila Mann sie auf, nachdem er sich mit seinem üblichen Klingeln angekündigt hatte, und erklärte, er werde sie von jetzt an nicht mehr besuchen. Darüber war sie sehr traurig, aber der kleine lila Mann sagte, sie sei jetzt schon groß und werde ihn in Zukunft nicht mehr brauchen. Er müsse sie jetzt verlassen, damit er sich um andere Kinder kümmern könne. Allerdings versprach er, er werde wiederkommen, wenn sie ihn wirklich brauche. Tatsächlich erschien er ihr viele Jahre später in einem Traum, und zwar zu einer Zeit, als sie eine persönliche Krise durchmachte und sich entscheiden musste, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Die Tür ihres Schlafzimmers öffnete sich, ein ganzer Wagen voller Bücher tauchte auf, und geschoben wurde er von … dem kleinen lila Mann. Dies interpretierte sie als Empfehlung, zur Universität zu gehen –
ein Ratschlag, den sie annahm und der sich später nach ihrem eigenen Urteil als gut erwies. Die Geschichte rührt mich fast zu Tränen und lässt mich vielleicht besser als alles andere verstehen, warum imaginäre Götter im Leben mancher Menschen eine derart tröstende, beratende Funktion erfüllen. Ein Wesen existiert nur in der Fantasie, aber es erscheint dem Kind dennoch vollständig real, kann echten Trost spenden und gibt gute Ratschläge. Und was vielleicht noch besser ist: Imaginäre Freunde – und imaginäre Götter – haben die Zeit und Geduld, ihre ganze Aufmerksamkeit dem Betroffenen zu widmen. Außerdem sind sie viel billiger als Psychiater oder professionelle Berater.
Haben sich die Götter in ihrer Rolle als Tröster und Berater durch eine Art psychologische »Pädomorphose« aus Gestalten wie Binker entwickelt? Pädomorphose bedeutet, dass kindliche Eigenschaften im Erwachsenenalter erhalten bleiben. Pekinesenhunde haben ein pädomorphes Gesicht: Das ausgewachsene Tier sieht aus wie das Junge. Aus der Evolution ist diese Gesetzmäßigkeit gut bekannt, und sie gilt allgemein als wichtig für die Entwicklung typisch menschlicher Merkmale wie unserer gewölbten Stirn und des kurzen Unterkiefers. Evolutionsforscher haben uns als jugendliche Menschenaffen bezeichnet, und tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass junge Schimpansen und Gorillas menschenähnlicher aussehen als ihre erwachsenen Artgenossen.
Könnten die Religionen sich in der Evolution ursprünglich dadurch entwickelt haben, dass der Zeitpunkt im Leben, zu dem die Kinder ihre Binker aufgaben, sich im Laufe der Generationen immer weiter nach hinten verschob, genau wie sich auch die Abflachung der Stirn und die Entwicklung des vorstehenden Kiefers immer stärker verlangsamten?
Der Vollständigkeit halber sollten wir wohl auch die umgekehrte Möglichkeit untersuchen. Haben sich die Götter vielleicht nicht aus ursprünglichen Fantasiefreunden wie Binker, sondern diese aus zuvor bereits vorhandenen Göttern entwickelt? Diese Variante kommt mir weniger wahrscheinlich vor. Ich musste allerdings darüber nachdenken, als ich das Buch The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind (Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche) des amerikanischen Psychologen Julian Jaynes gelesen hatte. Es ist so seltsam, wie der Titel andeutet, und gehört eindeutig zu den Büchern, die entweder barer Unsinn oder das Werk eines Genies sind, aber nichts dazwischen! Vermutlich trifft die erste Möglichkeit zu; aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen.
Jaynes stellt fest, dass viele Menschen ihre eigenen Gedankenprozesse als eine Art Dialog zwischen dem »Ich« und einer anderen, im Kopf angesiedelten Person wahrnehmen. Heute wissen wir, dass beide
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