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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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»Stimmen« zu uns gehören – und wenn wir das nicht bemerken, behandelt man uns als Geisteskranke. So erging es etwa Evelyn Waugh für kurze Zeit. Waugh, der nie ein Blatt vor den Mund nahm, sagte einmal zu einem Freund: »Ich hab dich ja so lange nicht gesehen, aber ich hab überhaupt kaum Leute gesehen, ich war nämlich – wusstest du das? –
verrückt.« Nach seiner Genesung schrieb er einen Roman mit dem Titel The Ordeal of Gilbert Pinfold (Gilbert Pinfolds Höllenfahrt) ; darin schilderte er diese Phase der Halluzinationen und die Stimmen, die er gehört hatte.
    Nach Jaynes’ Vermutung waren sich die Menschen noch um 1000 v.Chr. in der Regel nicht bewusst, dass die zweite Stimme – die Stimme des Gilbert Pinfold – aus ihrem eigenen Inneren kam. Sie hielten die Pinfold-Stimme für einen Gott, beispielsweise für Apollo, Astarte oder Jahwe, oder auch – wahrscheinlicher noch – für einen kleinen Hausgott, der ihnen Ratschläge oder Anweisungen erteilte. Jaynes lokalisierte die Stimmen der Götter sogar in der Gehirnhälfte, die dem Gehirnareal mit dem Sprachzentrum für die hörbare Sprache gegenüberliegt. Der »Zusammenbruch der bikameralen Psyche« war für Jaynes somit ein Wandel von historischer Dimension. Es war jener historische Augenblick, als den Menschen klar wurde, dass Stimmen, die sie von außen zu hören glaubten, in Wirklichkeit aus ihrem Inneren kamen. Jaynes geht sogar so weit, diesen historischen Übergang als Beginn des menschlichen Bewusstseins zu bezeichnen.
    Eine antike ägyptische Inschrift spricht von dem Schöpfergott Ptah und bezeichnet die verschiedenen anderen Götter als Abwandlungen von Ptahs »Stimme« oder »Zunge«. Moderne Übersetzungen verwerfen die buchstäbliche »Stimme« und interpretieren die anderen Götter als »objektivierte Begrifflichkeiten seines [Ptahs] Geistes«. Jaynes lehnt eine solche übertragene Lesart ab und nimmt stattdessen die wörtliche Bedeutung ernst. Die Götter waren demnach Halluzinationen von Stimmen, die im Kopf der Menschen sprachen. Außerdem äußert Jaynes die Vermutung, solche Götter könnten sich aus der Erinnerung an tote Könige entwickelt haben, die auf eine gewisse Weise zu ihren Untertanen sprachen und damit als imaginäre Stimme die Macht über sie behielten. Ob man diese These nun plausibel findet oder nicht, das Buch von Jaynes ist in jedem Fall so faszinierend, dass es eine Erwähnung in einem Buch über Religion verdient hat.
    Kommen wir nun zurück zu der Möglichkeit, im Rückgriff auf Jaynes eine Theorie zu konstruieren, wonach Götter und Fantasiefreunde wie Binker entwicklungsgeschichtlich verwandt sind – und zwar genau andersherum, als es die Theorie der Pädomorphose annimmt. Dies läuft auf die Vermutung hinaus, dass der Zusammenbruch der bikameralen Psyche in der Geschichte kein plötzliches Ereignis war, sondern dass der Augenblick, in dem die eingebildeten Stimmen und Erscheinungen nicht mehr als real wahrgenommen werden, sich in ein immer früheres Stadium der Kindheit verlagerte. Nach dieser Umkehr der Pädomorphose-Hypothese verschwanden die eingebildeten Götter zunächst aus dem Geist der Erwachsenen, und dann zogen sie sich immer weiter in die Kindheit zurück, sodass sie sich heute nur noch in Phänomenen wie Binker oder dem kleinen lila Männchen erhalten haben. Allerdings wirft diese Version der Theorie das Problem auf, dass sie nicht erklärt, warum Götter bis heute im Geist von Erwachsenen vorkommen.
    Vielleicht ist es darum besser, Götter nicht als Vorläufer der Binker-Gestalten oder umgekehrt anzusehen, sondern beide als Nebenprodukte der gleichen psychischen Disposition zu deuten. Götter und Fantasiefreunde haben beide die Fähigkeit zu trösten, und sie geben eine ausgezeichnete Bühne ab für das Ausprobieren von Ideen. Damit sind wir nicht mehr weit von der im fünften Kapitel beschriebenen Theorie entfernt, wonach die Religion in der Evolution ein psychologisches Nebenprodukt war.

Trost

    Jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns mit einer wichtigen Funktion Gottes beschäftigen: Er tröstet uns, und wenn er nicht existieren sollte, stehen wir vor der humanitären Herausforderung, etwas anderes an seine Stelle setzen zu müssen. Viele Menschen räumen ein, dass Gott vermutlich nicht existiert und dass er auch für die Ethik nicht nötig ist, aber dann präsentieren sie das, was sie für eine Trumpfkarte halten: das angebliche psychologische oder emotionale Bedürfnis nach einem Gott.

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