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Der Graben: Thriller (German Edition)

Der Graben: Thriller (German Edition)

Titel: Der Graben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kôji Suzuki
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ersten Mal bemerkte sie, dass der Abhang des Kräutergartens von ihrem Zimmer aus zu sehen war. Doch schließlich hatte sie gestern auch vom Park aus das Hotel sehen können.
    Saeko war ziemlich feinfühlig. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, bestimmte Dinge zu hören und zu sehen, die andere nicht wahrnehmen wollten oder konnten. Vielleicht lag es an dieser Sensibilität, dass sie der gestrige Aufenthalt in den Gärten physisch und psychisch so angestrengt hatte. Auch jetzt wusste sie noch nicht, wie sie dieses Erlebnis beschreiben sollte. Rein physisch waren ihre normalen Körperfunktionen irgendwie gestört gewesen – das traf es am ehesten. Sie dachte an den nahezu unerträglichen Druck auf ihrer Blase zurück, an die plötzliche Trockenheit ihrer Kehle, die Schwere in den Beinen. Falls sie jemals von Außerirdischen auf einen anderen Planeten entführt wurde, würde sie sich ganz ähnlich fühlen.
    Wenn die Veränderung für sie schon so krass gewesen war, musste sie für eine Hellseherin wie Shigeko noch schlimmer gewesen sein. Um es mit deren eigenen Worten auszudrücken: Sie hatte sich klein gefühlt, und Saeko konnte begreifen, was das bedeutete. Wenn die Welt, die ihnen bisher einen festen Boden unter den Füßen geboten hatte, den Halt verloren hatte und zu zerfallen begann, konnte sich ein Mensch nur noch so machtlos fühlen wie eine Ameise.
    Allmählich zu begreifen, dass Hashiba sie nicht brauchte, war für Shigeko sicherlich auch nicht hilfreich gewesen. Saeko begann zu verstehen, wodurch die alte Frau nach und nach ihr Selbstvertrauen verloren hatte.
    »Ich glaube, Frau Torii war einfach lebensmüde«, fasste sie ihre Gedanken zusammen. Sie entschied sich dagegen, erklären zu wollen, was für einen Schock Shigeko im Park erlitten haben musste. Schließlich waren die Polizisten auch dort gewesen und hatten nichts gemerkt.
    Außer mit Saeko sprachen die Polizisten mit Kagayama, Kato und Hosokawa, und nachdem sie alle möglichen Widersprüche zwischen allen Aussagen geklärt hatten, verließen sie das Hotel. Aufgrund von Shigekos Tod war es mehr als wahrscheinlich, dass die Sendung gecancelt wurde. Saeko und die anderen kehrten in ihre Zimmer zurück und packten alles zusammen, um auszuchecken. Sie hatten keinen Grund, länger in Atami zu bleiben.
    35
    Die Rolltreppe des Bahnhofs brachte Saeko mitten ins Gewühl der Menge im Stadtzentrum. Es war ein Abend kurz vor dem Jahresende, und die Leute gingen mit raschen, kleinen Schritten. Die Weihnachtslieder schienen eher aus der Stadt selbst zu kommen als aus den Geschäften entlang der Straßen. Als es Saeko dämmerte, dass Heiligabend war, blieb sie vor einem noblen Juweliergeschäft stehen und ertappte sich dabei, wie sie die Schaufenster anschaute. Gleichzeitig tauchte Hashibas Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Mit Mitte dreißig machte sie den Weihnachtsrummel nicht mehr mit, doch sie sah dabei immer noch das Bild von Paaren vor sich.
    Sie erinnerte sich an das letzte Weihnachtsfest, das sie mit ihrem Exmann verbracht hatte – sie hätten ebenso gut Fremde sein können. Als sie noch klein war, hatte ihr Vater ihr immer ein Geschenk überreicht, immer etwas pädagogisch Wertvolles: ein Backgammonspiel, ein Mikroskop, eine elektrische Schreibmaschine, ein Set zum Buchbinden, ein Teleskop, ein Lexikon, eine Lithografie, einen Globus… Einmal hätte er beinahe einen Webstuhl in ihrem Zimmer aufgestellt. Oft hatte sie sich gewünscht, er würde ihr so richtige süße Mädchensachen schenken, doch dieser Wunsch ging nie in Erfüllung.
    Als sie aus dem hektischen Einkaufsviertel in ein Wohngebiet kam, sah Saeko ein Haus, das mit schwarzen Blumen geschmückt war.
    Nach der Autopsie war Shigekos Leiche in ihre Heimat im Oimachi-Bezirk von Tokio überführt worden, um sie für die heutige Totenwache vorzubereiten. Saeko war nicht besonders überrascht gewesen, als sie gehört hatte, dass keine konkrete Todesursache gefunden worden war. Es war genau, wie sie es erwartet hatte.
    Shigekos Haus war ein frei stehendes Gebäude, das von dem Geld, das sie bei ihren Fernsehauftritten verdient hatte, auf dem Grundstück ihres alten Familienwohnsitzes gebaut worden war. Das Haus war zu groß für nur eine Person, und die Geräumigkeit betonte noch die karge Atmosphäre einer Totenwache, bei der niemand wirklich traurig über den Tod der Verstorbenen zu sein schien. Es wurde überdeutlich, wie allein Shigeko in ihrem Leben gewesen war.
    Wenn ich jetzt sterben müsste,

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