Der Graben: Thriller (German Edition)
auszuschmücken. Mit meißelartigen Werkzeugen bearbeiteten sie die glatten Wände, bis sie über und über mit Blumen verziert waren.
Als das Werk im Inneren endlich vollendet war, versammelten die Leute sich in der Höhle und beteten im Chor zu dem kargen Land. Dann setzten sie sich hin und warteten andächtig auf das Ende, im festen Glauben an die göttliche Weissagung, die sie empfangen hatten.
Ihre Wache dauerte tagelang an. Jeden Morgen, wenn die Sonne unten über dem Horizont aufging, setzten die Gläubigen ihre Gebete fort. Jeden Abend verkündete das Rauschen der Wellen unten an den Felsen, dass die Welt um sie herum immer noch existierte.
Für die dicht gedrängten Gläubigen war die Vorstellung vom Ende der Welt von reinster Schönheit. Sie hatten beschlossen, tapfer alles anzunehmen, das kommen würde, mutig und gottesfürchtig die Ankunft einer besseren Welt zu begrüßen. Das Ende der Welt bedeutete das Ende ihres Leidens, des Elends ihres täglichen Lebens. Es versprach einen neuen Anfang.
Doch so lange sie auch warteten, die Sonne ging immer wieder auf, und die Wellen rauschten immer weiter. In einer Mischung aus Verzweiflung und Erleichterung verließen die Menschen schließlich die Höhle, die fortan mitsamt den kunstvollen Meißelarbeiten und Blumenmalereien leer stand.
Der modernen Welt erzählte die Höhle etwas von der geistigen Haltung dieser Gläubigen, die auf das Ende der Welt warteten. Sie legte beredt Zeugnis ab von deren Überzeugung, dass die Welt, die sie erwarteten, voller Farben und Blumen war.
Als Saeko noch ein Kind gewesen war, hatte ihr Vater sie mitgenommen, um ihr die Höhle mit ihren Bildern zu zeigen. Sie erinnerte sich, dass sie völlig enttäuscht gewesen war, als sie endlich alles mit eigenen Augen sah. Die Höhle war viel kleiner als in ihrer Vorstellung, und die wunderschönen Blumenbilder, die sie erwartet hatte, waren nicht mehr als unbeholfenes rotes Gekritzel.
Als Saeko jetzt aus dem Fenster des Hochgeschwindigkeitszuges schaute, fiel ihr die Geschichte von diesen Menschen und ihrer Höhle wieder ein. Irgendetwas an der Landschaft, die draußen ruhig vorbeizog, sprach zu ihr. Sie war sich nicht ganz sicher, was es war, aber irgendetwas kam ihr fremd vor, und dieses Gefühl weckte ihre Erinnerung an jene Geschichte vom Ende der Welt.
In der Ferne ragte kurz der Fudschijama auf, bevor er wieder hinter den Gebäuden im Vordergrund verschwand. Die berühmte kegelförmige Silhouette des Berges war vor dem hellen Himmel deutlich zu erkennen gewesen. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit war er noch ohne Schnee. Der braune Gipfel schien erschaudert zu sein, als der Zug zwischen Tanzawa und Hakone dahinraste.
Wenn Saeko einmal an das Ende der Welt dachte, dann meist im Gespräch unter Freunden. Spaßeshalber stellte man sich alberne Fragen: »Mit wem würdest du den letzten Tag verbringen?«, »Was würdest du essen?«, »Was würdest du am letzten Tag vor dem Weltuntergang tun?« Saeko lehnte sich zurück und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie dachte an den Tod. Was war der Tod? Das Ende des Bewusstseins, das Ende des Fühlens… Das Nichts. Ihr fiel auf, dass die Vorstellung des Nichts ihr keine Angst machte. Sie dachte weiter über das Thema nach, bis der Zug in Atami einlief. Saeko war mit dem Physiker, dem neuen »Berater« der Fernsehsendung, verabredet. Sie wollten sich am Bahnhof treffen, worauf Saeko ihn zu den Gärten begleiten würde.
Nachdem sie das Bahnhofsgebäude verlassen hatte, rief si e Hashiba an, um ihm zu sagen, dass sie angekommen war.
Er schien etwas von dem natürlichen Elan und der Vertrautheit wiedergefunden zu haben, mit der er ihr anfangs begegnet war. »Perfektes Timing. Gerade hat mich auch der Physiker angerufen – er heißt Naoki Isogai. Er ist auch eben in Atami angekommen; wahrscheinlich seid ihr mit demselben Zug gefahren. Kannst du dich mit ihm treffen und im Taxi mit ihm herkommen?«
Saeko hatte Isogai noch nie gesehen. »Woran erkenne ich ihn?«
»Warte. Ich gebe dir seine Handynummer.«
Saeko holte einen Notizblock aus dem Rucksack, hatte jedoch Mühe, das Telefon zu halten, während sie einen Stift suchte. »Ich behalte die Nummer im Kopf, sag sie mir«, forderte sie Hashiba auf.
»Sicher?«, fragte Hashiba zweifelnd.
»Ich kann mir Zahlen ziemlich gut merken.«
Hashiba nannte ihr die elfstellige Nummer, und Saeko wiederholte sie laut. In diesem Moment fiel ihr Blick auf einen Mann, der den Bahnhof verließ. Er
Weitere Kostenlose Bücher