Der Graben: Thriller (German Edition)
schien ihren Körper zu umgeben und den ganzen Raum zu erfüllen.
Nur Saeko schien gegen die seltsame Stimmung immun zu sein, die das übrige Team ergriff. Stattdessen war sie immer noch auf den schwarzen Terminkalender fixiert. Sie hatte wahrhaftig eine Pforte in eine andere Welt entdeckt. Sie wusste genau, was das Zeichen auf dem Einband bedeutete. Es war das Logo der Firma ihres Vaters, und das Büchlein war ein von dieser Firma hergestellter Terminkalender. Er hatte genauso einen Kalender benutzt, um den Überblick über seine Termine zu behalten. Saeko hatte keine Ahnung, wie viele Exemplare die Firma hergestellt hatte. Hunderte? Nicht mehr als tausend, da war sie sich sicher. Jedes Jahr wurden neue Kalender gedruckt und an Kunden, Familien und Freunde verteilt. Vielleicht war es nur Zufall, dass Saeko im Haus der Fujimuras einen gefunden hatte.
Sie blätterte den Kalender durch.
Die Seiten waren voller Einträge, mit Bleistift eng beschrieben. Beim Überfliegen erkannte Saeko, dass das Büchlein nicht nur als Terminkalender, sondern auch als eine Art Tagebuch benutzt worden war.
25.–27. Juli, Aufenthalt am Yamanaka-See für Übersetzungsprojekt. Manuskript muss fertig sein, bevor Steven Sellers in Japan ankommt. Sommerferien meiner Tochter haben begonnen. Sie scheint recht fleißig für die Aufnahmeprüfung zum College im übernächsten Jahr zu lernen und hat daher nicht viel Zeit für mich, wenn ich wieder in Tokio bin.
Genau wie Saeko intuitiv geahnt hatte, war das Büchlein tatsächlich ein Fenster zu ihrer Vergangenheit.
Plötzlich verspürte sie einen stechenden Schmerz in den Schläfen. Sie konnte sich nicht länger auf den Beinen halten und ließ sich zu Boden sinken, wo sie war, den Kalender auf den Knien. Sie schlug die letzte Seite auf.
Die Einträge nach dem 22. August waren nicht mehr so lang; ab diesem Datum war das Büchlein nur noch als Terminkalender benutzt worden, nicht mehr als Tagebuch. Es war der Tag, nach dem Saekos Vater aus dem Hotelin Narita seine Tochter in Tokio angerufen hatte, kurz bevor er verschwunden war.
Rasch ließ Saeko das Büchlein in die Tasche gleiten. Alles, was ihrem Vater gehört hatte, war ihr rechtmäßiger Besitz, und sie hatte kein schlechtes Gewissen dabei, den Kalender einzustecken. Er war für sie bestimmt.
Den Terminkalender ihres Vaters aus dem Jahr seines Verschwindens zu finden war unglaublich großes Glück. Wenn sie zurückverfolgen konnte, was ihr Vater vor seinem Verschwinden getan hatte, konnte sie die Nachforschungen nach seinem Aufenthaltsort wieder aufnehmen.
Hashiba ging zu der Seite des Tisches hinüber, die Torii gegenüber lag; dabei achtete er darauf, nicht in den Blick der Kameras zu geraten. Zuvor hatte er seine Fragen von der Tür hinter Torii hergestellt, doch allmählich war er frustriert. Er wollte näher an Torii sein und sehen, ob er die ganze Sache etwas vorantreiben konnte.
»Frau Torii, würden Sie uns bitte mehr darüber erzählen, was Sie sehen?«
»Der Diener Gottes kommt in Gestalt einer Schlange. Sie macht Jagd auf das Leben…«
Torii hielt inne, ihr versagte die Stimme. Sie zitterte heftig, und ihr Blick schien im Raum nach etwas zu suchen. Die Haut ihrer Wange bebte, und ihre Pupillen verdrehten sich nach oben.
»Stimmt etwas nicht?« Erschrocken über ihre verzerrte Grimasse wich Hashiba einen Schritt zurück.
»Still!«, zischte Torii und hielt in einer unmissverständlichen Geste einen Finger an die Lippen.
Sofort erstarrte die Atmosphäre im Raum zu Eis. Alle blieben wie angewurzelt stehen und regten sich nicht mehr. Nur Torii wandte sich langsam um. Ihr Blick schweifte über die Tür zum Flur und ein Regal mit einem Aquarium, bis er an einer Fensterscheibe hängen blieb. Dann rührte auch sie sich nicht mehr.
»Gleich wackelt die Erde«, verkündete Torii.
Meinte sie damit, dass ein Erdbeben kommen würde?
Kracks!
Das war nicht das Fenster, das knarrte. Es war, als ob sich ein Abgrund in der Luft geöffnet hätte und die Anwesenden dies deutlich, aber schmerzlos auf der Haut spürten. Nahezu zwanzig Sekunden lang warteten alle mit angehaltenem Atem ab und versuchten zu erkennen, wer oder was da hereingekommen war.
Der zuvor so klare Himmel war nun bedeckt. Die Wolken zogen rasch und jagten bläulich-weiße Lichtbogen herab. Die japanischen Alpen schienen sich an sie zu drängen; durch die aufzuckenden Blitze, die flimmerten wie Scan-Linien auf einem Röhrenbildschirm, kommunizierten sie mit der
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