Der Grabritter (German Edition)
noch nicht oft gegeben. Der vorsitzende Richter, Armando Catani, unterbrach die Gerichtsverhandlung, um ein Telefonat entgegenzunehmen, und in der Tat gab es höchstens eine Handvoll Leute, die das bewerkstelligen konnten. Einer von ihnen war ein langjähriger guter Freund des Richters. Sir John Fiz Patric, der Großmeister der Grabritter von Jerusalem.
Richter Catani schloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Der hagere Mann mit den schlohweißen Haaren nahm den Hörer in die Hand und lehnte sich zurück. »Sir John, wenn Sie darauf bestehen, mich aus einer Verhandlung zu holen, dann brauche ich mich wohl nicht mit Small Talk aufzuhalten. Also gerade heraus, wie kann ich Ihnen helfen, mein Freund?« Ebenso direkt wie die Frage des Richters, so kurz und umfassend war die Antwort Sir Johns. »Ein Haftbefehl gegen den Rechtsanwalt Alfredo Ragusa aus Rom muss umgehend erlassen werden.« Richter Catani sagte nichts. Er ließ sich von John Fiz Patric in groben Zügen erklären, worum es ging. Nachdem er über das Wesentliche im Bilde war, setzte er seine Brille ab und rieb sich nachdenklich über die Nase. »Ich verstehe, Sir John. Der Haftbefehl gegen Ragusa ist schnell ausgestellt. Da unter den gegebenen Umständen ohnehin in kürzester Zeit ein internationaler Haftbefehl gegen ihn erlassen wird, wirft das keine größeren Probleme auf. Wenn ich aber richtig geschlussfolgert habe, muss heute noch ein Verhör stattfinden, und daraus müssen sich genügend Verdachtsmomente ergeben, um eine Untersuchung gegen Conte Ferruccio Vigiani zu rechtfertigen. Sie wissen wohl , Sir John, was mit mir passiert, wenn ich bei einem solchen Mann wie dem Conte nicht mitten ins Schwarze treffe. Ich werde morgen mit einem derartigen Knall aus meinem Amt geschossen, dass man es in ganz Italien hören wird. Andererseits, wenn das, was Sie mir erzählt haben zutrifft, und daran zweifle ich eigentlich nicht, möchte ich nicht derjenige sein, der nicht alles unternommen hat, diesen Mann zu stoppen. Ich bin schon über achtzig Jahre alt, Sir John, und ich kann mich noch sehr gut an die Zeit meiner Jugend erinnern. Die Zeit, als Benito Mussolini das faschistische Regime in Italien anführte. Il Duce, die Marionette Hitlers und seiner Nazis. Ich weiß nur zu gut, was große Macht in Händen solcher Männer anrichten kann. Also schön, Sir John.
Ich werde jetzt Folgendes tun: d ie laufende Gerichtsverhandlung wird von mir abgebrochen und vertagt. Anschließend fahre ich mit einem Haftbefehl und unseren Einsatzkräften zu Ragusa. Es wird dafür gesorgt werden, dass er keinerlei Kontakt mehr nach außen aufnehmen kann. Das erste Verhör findet sofort in seiner Kanzlei statt. Wenn ich es schaffe, ihn weich zu bekommen, dann ist so schnell wie möglich eine Sondereinheit auf dem Weg zum Anwesen der Vigianis. Alle Vorbereitungen dafür werde ich treffen. Falls es mir aber nicht gelingen sollte, etwas aus Ragusa herauszubringen, muss ich mich zurückziehen. Mir bleibt dann nur, Ihnen und Ihren Männern viel Glück zu wünschen, und sei Gott mit Ihnen, Sir John.«
58
Bice de Vigiani hatte mittlerweile schon fast das halbe Haus durchstreift. Victor Baranow war wie vom Erdboden verschluckt. Er war weder in seinem Zimmer noch bei dem Gemälde. Auch Maria hatte ihn noch nicht beim Frühstück gesehen. Bice fragte unter den Bediensteten, ob jemand von ihnen Victor gesehen hatte. Überall bekam sie die gleiche Antwort. Er war heute Morgen noch niemandem begegnet. Sie ging hinüber zum Kaminzimmer. Die Tür war angelehnt. Auf den ersten Blick schien es leer zu sein. Dann roch sie frischen Zigarrenrauch und sah, wie hinter einem der wuchtigen Ledersessel langsam der blaue Dunst aufstieg. Sie trat in das Zimmer und ging langsam um den Sessel herum. Ihr Vater saß dort und sah in den erloschenen Kamin hinein. Auf dem kleinen Tisch vor ihm stand ein Glas Brandy. »Papa, was machst du hier unten? Das Feuer ist noch nicht an. Es ist kalt hier drin und du sitzt da, rauchst Zigarre und trinkst Alkohol. Der Arzt hat gesagt, du musst auf den Brandy und die Zigarren unbedingt verzichten. Was ist los mit dir?« Bice setzte sich zu ihrem Vater auf die Lehne des Sessels. Der Conte sah sie mit stumpfen, ausdruckslosen Augen an. »Wozu das alles noch, Bice? Es wird ohnehin nicht mehr lange dauern. Also werde ich mir die letzten Tage nicht noch von einem Quacksalber vermiesen lassen.« Bice strich ihm über die
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