Der Grabritter (German Edition)
Doch dann plötzlich erschienen seine starren Augen über der Brückenmauer. In seiner Brust klaffte ein blutiges Loch. Er torkelte. Dann kippte er langsam nach vorne und stürzte neben Kerner hinunter in die Schlucht. Kerners Finger rutschten langsam Zentimeter um Zentimeter von der Mauer ab. Seine Kräfte schwanden, in seinem Kopf war ein dunkles Hämmern. Nur noch im Unterbewusstsein spürte er, wie zwei kräftige Hände einen seiner Arme packten. Dann verlor er das Bewusstsein.
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Fast eine ganze Woche schon lag Kerner in dem Krankenhaus in Mailand. Der Conte hatte ihn schwer erwischt. Wäre Ramon nicht gewesen und hätte ihn in letzter Sekunde halten können, so wäre er wohl zusammen mit Ferruccio Vigiani in die tosenden Wassermassen unter der Via Mala gestürzt.
Er tastete nach seinem Kopf. Dort fühlte er den dicken Verband und machte langsam die Augen auf. Das Licht blendete ihn. Warmer Sonnenschein fiel durch die Fenster auf sein Bett. Überall im Zimmer verteilt standen Blumen, Fresskörbe und sonstige Aufmerksamkeiten. Vor sich sah er ein breites Grinsen. Siegfried von Löwenberg, der riesige Grabritter, saß an seinem Bett und schlug ihm auf seine Beine. »Na, das wurde aber auch Zeit, mein Freund. Ich dachte schon, ich müsste mir ernsthafte Sorgen um dich machen.« Kerner versuchte zu lachen. Es blieb bei dem Versuch. Sein Kopf dröhnte immer noch ordentlich. Siegfried stand auf und fuhr das Kopfteil des Bettes vorsichtig ein Stück höher. »Nur langsam, Marcus. Du hast eine schwere Gehirnerschütterung und eine mächtige Platzwunde an deinem Holzkopf. Nichts, was einen Kerl wie dich umbringt, aber ein paar Tage Ruhe wirst du dir noch gönnen müssen. «
Siegfried erzählte von den Ereignissen der letzten Tage. Ferruccio und Donatello Vigiani waren tot, und Himmlers Vermächtnis hatte Ferruccio mit in sein Grab genommen. Von dort, tief unter der Via Mala, gab es keine Wiederkehr. Niemand konnte in diese Schlucht hinunter, und Kopien von Himmlers Plänen waren nicht gefunden worden. Die geheime Loge hätte wohl sonst auch keinen so massiven Überfall auf die Vigianis verübt. Sie hatten versucht, so die Pläne in ihren Besitz zu bringen.
Ragusa hatte alles, was er wusste, ausgeplaudert. Nachdem Sam sich als genialer Hacker betätigt und alle Konten der Vigianis lahmgelegt hatte, waren die Gelder darauf mittlerweile offiziell von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt worden. Weiterhin hatten die belgischen Kollegen durch die Hinweise von Richter Catani einen Teil des Kinderhändlerring es um Madame de Man auffliegen lassen . Einige der Beteiligten steckten bereits in Untersuchungshaft. Vier kongolesische Mädchen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren waren befreit worden. Man versuchte, die Eltern in ihrer Heimat ausfindig zu machen. Leider stand schon jetzt fest, dass die meisten von ihnen nicht mehr am Leben waren. Bice de Vigiani war von allen Verdachtsmomenten befreit. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Mit Ramon zusammen hatte sie das Anwesen und den Comer See verlassen. Auch Graf Siegfried wusste nicht, wo sie sich aufhielt.
Kerner dachte daran, wie schmerzvoll das alles für Bice sein musste. Er hatte ihre Liebe verraten, indem er sie benutzt und hintergangen hatte. Ihre ganze Welt hatte er zum einstürzen gebracht. So etwas konnte eine Frau wie Bice nicht verzeihen. Doch zuviel hatte auf dem Spiel gestanden. Unmöglich hätte er sie einweihen können. Das Leben vieler Menschen hatte in seinen Händen gelegen. Von Anfang an hatte er befürchtet, dass dieser Tag kommen würde . Der Tag, an dem er ihre Liebe verr iet . Er musste sie finden und mit ihr reden, auch wenn es nur ein letztes Mal war. Jetzt aber versuchte er die Gedanken an sie aus seinem Kopf zu verdrängen.
Unter Schmerzen richtete er sich auf. »Wo ist Marquart?« Der Grabritter schüttelte langsam den Kopf. »Richter Cattani, John Fiz Patric und e uer BKA arbeiten mit Hochdruck daran, den Aufenthaltsort dieses Mannes zu ermitteln. Bis jetzt ohne Erfolg. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht ist er bereits tot.« Kerner ließ sich wieder zurücksinken. »Nein, Graf Siegfried, ich weiß, er lebt. Ich spüre es, und wenn ich hier rauskomme, dann finde ich ihn. Er wird nicht entkommen. Das habe ich geschworen. Bei einem kleinen Mädchen und bei all den anderen Opfern, die dieses Schwein auf dem Gewissen hat.«
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Vollkommen blind stieg Kerner die Stufen der
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