Der Grabritter (German Edition)
Dörfern am See. »Vielleicht auch da unten.« Kerner nahm sie in den Arm und küsste sie.
Für den Rest des Nachmittags hatte die Welt um sie keine Bedeutung mehr. Erst am frühen Abend kehrten sie zum Haus zurück. Nach dem Abendessen saßen sie noch eine Weile zusammen mit dem alten Conte im Kaminzimmer. Er erklärte Kerner die Untersuchungen, die sie heute an dem Gemälde vorgenommen hatten. Mit den bisherigen Ergebnissen zeigte er sich zufrieden. Obwohl ihm dieser Tag wahrscheinlich ein Gefühl der Hochstimmung vermittelt hatte, sah er elend aus. Er hatte starke Schmerzen, und Bice brachte ihn zu seinem Zimmer. Als sie zurückkehrte, zeigten sich in ihrem Gesicht tiefe Sorgenfalten. »Es tut mir leid Victor, aber ich muss mich heute Nacht um Papa kümmern. Es geht ihm schlecht. Er braucht mich vielleicht.« Sie kam zu dem Sessel, in dem Kerner saß, und setzte sich auf seinen Schoß. Sie küsste ihn zärtlich und lächelte. »Wir sehen uns morgen früh. Es war ein wunderschöner Tag, Victor. Schlaf gut.« Bice stand auf und ließ Kerner allein vor dem Kamin zurück. Er ließ sich Zeit. Eine ganze Weile blieb er noch am Kamin sitzen und dachte nach. Über sich, über Bice, den Clan der Vigianis, die Grabritter und wie unvereinbar all diese Dinge doch waren. Maria sah noch einmal kurz herein und fragte ihn, ob er noch irgendetwas brauchen würde. Dann wünschte auch sie eine gute Nacht.
Im Haus war es ruhig geworden. Nur das leise Prasseln vom Feuer aus dem Kamin war noch zu hören. Kerner stand auf und ging in sein Zimmer. Einen Moment lang wartete er noch, dann nahm er einen dunklen Trainingsanzug aus dem Schrank und packte ein paar Utensilien zusammen, die er in einer kleinen Tasche verstaute. Mit einem Gürtel band er die Tasche um die Hüften, ging zum Fenster und öffnete es. Es befand sich in einem Seitenflügel im zweiten Stock des Hauses. Niemand war zu sehen.
Der Springbrunnen, an dem sich nachts eine Wache befand, war von hier aus nicht zu sehen. Er lag auf der anderen Seite. Nicht ganz fünfzig Meter vom Fenster entfernt begann ein Waldstück, das sich weitläufig um das Haus erstreckte. Kerner lehnte sich etwas hinaus und suchte die Wand mit seinen Augen ab. Schon heute Morgen hatte er nicht ganz zwei Metern vom Fenster entfernt eine Regenrinne entdeckt. Da war sie. Er musste sie irgendwie erreichen. Kerner schloss einen Fensterflügel. Dahinter befand sich ein großer Gardinenstore mit einer dicken, geflochtenen Schnur, die ihn zusammenhielt. Kerner nahm die Schnur und befestigte ein Ende an einem der Haken, die außen an der Mauer die Fensterläden sicherten. Dann kletterte er nach draußen. An der Schnur ließ er sich langsam ein Stück herunter. Nachdem er sich ein paar Mal daran hin und her geschwungen hatte und dabei mit den Füßen an der Wand abstieß, konnte er die Regenrinne greifen. Er befestigte das Ende der Schnur daran und kletterte hinunter. Immer noch war nichts zu sehen. Schnell überbrückte Kerner das freie Stück zwischen Haus und dem nahen Waldstück. Dort angekommen, orientierte er sich zunächst. Er wusste, in welcher Richtung das alte Jagdhaus stehen musste, und rannte los.
Nachdem er einen weiten Bogen geschlagen hatte, erreichte Kerner nach einiger Zeit die Lichtung mit dem Hubschrauberlandeplatz. Im fahlen Mondlicht erkannte er die Umrisse des Jagdhauses. Er blieb einen Moment stehen und atmete tief durch. Auch hier war alles ruhig, niemand war zu entdecken. Die Wachen waren fast alle an der äußeren Mauer postiert, und die steile Felswand auf dieser Seite hier könnte ohnehin niemand erklettern. Eine zusätzliche Überwachung auf dem Gelände schien somit auch nicht nötig. Eigentlich! Kerner ging hinüber zum Haus und sah sich weiter um. Alles wirkte noch unheimlicher und bedrohlicher als bei Tage.
Obwohl Kerner für solche Wahrnehmungen nicht empfänglich war, hatte er mit einem Mal ein beklemmendes Gefühl. Ein paar Meter vom Haus entfernt ragte ein Brunnenschacht aus dem Boden. Er war aus dicken Felsblöcken gemauert. Kerner blieb neben ihm stehen und stützte die Hände auf den Rand. Irgendwie musste es ihm gelingen, ins Haus zu kommen. Die Fenster rundherum waren mit dicken Eisenstäben vergittert, und auch die massive Tür schien nicht geeignet, um dort einzubrechen. Nur ein kleines rundes Fenster im Giebel bot vielleicht eine Möglichkeit. Es hatte keine Gitter und machte auch sonst einen nicht übermäßig stabilen Eindruck. Die Fassade des Hauses
Weitere Kostenlose Bücher