Der Graf und die Diebin
rechten Zeitpunkt zu versäumen.“
„Der Abend ist noch lang, Comte“, gab sie zurück. „Ihr seid keinesfalls zu spät.“ Sie wusste den Chevalier zwei Schritte neben sich, eine Gruppe Neugieriger war bei ihnen stehen geblieben, unter ihnen der Duc de Gironde und Mme de Fador. Doch all das registrierte sie nur am Rande, denn sie war von Christians Gegenwart wie gebannt. Sie hörte ihn leise lachen, sah, wie seine dunklen Augen aufblitzten. Völlig überraschend packte er sie bei den Schultern und riss sie an sich, sie spürte seine heißen Lippen so fest auf den ihren, dass es schmerzte. Im gleichen Augenblick stieß er sie wieder zurück und lachte wie ein Wahnsinniger.
„Dieser Kuss war noch Euer Eigentum“, rief er wild. „Ich hatte ihn Euch in unserer Liebesnacht geraubt und gebe ihn jetzt zurück.“ Entsetztes Schweigen folgte auf diese unglaubliche Beleidigung. Jeanne stand einen Moment wie erstarrt. Dann schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Er nahm den Schlag an, ohne sich zu bewegen. Nur seine Augen glühten, als sei er im Fieber.
„Bravo, Jeanne“, sagte er leise. „Möchtest du die andere Wange auch?“
Sie hörte sein wahnsinniges Lachen, dann die wütende Stimme des Chevaliers, die aufgeregten Rufe der Umstehenden, die scharfe Stimme der Mme de Fador. Alles mischte sich, sie konnte plötzlich die Worte und Rufe nicht mehr voneinander unterscheiden. Jemand fasste ihren Arm und zog sie beiseite.
„Ihr wollt mich fordern? Macht Euch nicht lächerlich!“
„Wählt die Waffen, de Saumurat!“
„Ich fechte nicht gegen einen Schwächling, Chevalier.“
„Ihr seid ein Feigling, de Saumurat. Euch schlottern die Hosen vor Angst. Jämmerliche Memme!“
„Es reicht, Chevalier.“
„Wählt die Waffen, Hasenfuß.“
„Den Degen. Ort und Zeitpunkt werden Euch mitgeteilt.“
Eine Frau schrie gellend auf, Gestalten eilten an Jeanne vorüber, nahmen ihr die Sicht, der Fackelschein wurde unstet, der ganze Garten schien in roter Glut zu brennen. Ein Arm legte sich um ihre Schultern, jemand zog sie sanft mit sich fort, drückte sie in einen Sessel, schob ihr ein Glas mit Wasser an die Lippen.
„Trink, Jeanne“, sagte Roger de Gironde. „Es wird dir gleich wieder besser gehen.“
Sie hatte sich von der Gesellschaft zurückgezogen und in ihrem Schlafzimmer verbarrikadiert. Schluchzend war sie auf ihr Bett gefallen, hatte die Kissen in alle Richtungen gefeuert und wütend mit den Fäusten auf die Polster getrommelt. Warum hatte er ihr das angetan? Warum diese Demütigung vor aller Welt? Vor all diesen edlen Herrschaften, die sie bisher geachtet und respektiert hatten. Niemals wieder würde sie diesen Leuten unbefangen gegenübertreten können. Sie war als Hure abgestempelt und würde hinfort auch so behandelt werden.
Erst, als sie ihren Zorn an den unschuldigen Kissen und Polstern ausgetobt hatte, sank sie in sich zusammen und weinte hilflos. Das Schlimmste waren nicht seine beleidigenden Worte gewesen – auch nicht sein schreckliches, irrsinniges Lachen. Das Schlimmste an dieser Begegnung war die Erkenntnis, dass sie diesen Mann trotz all seiner Niederträchtigkeit immer noch liebte. Als er so plötzlich vor ihr stand, hätte er nur die Hand auszustrecken brauchen, und sie hätte sie geküsst. Ein Wort von ihm, und sie wäre ihm gefolgt wie ein Hündchen, wohin auch immer, und sei es bis ans Ende der Welt. Aber er hatte es vorgezogen, sie bloßzustellen und zu beleidigen.
Sie schreckte hoch, weil jemand an der Tür rüttelte. Sie hatte sich eingeschlossen, hatte nicht einmal Nadine einlassen wollen. Aber vor ihrer Tür stand nicht die kleine Nadine.
„Mach auf!“
Die Stimme des Chevaliers war heiser, und sie spürte, wie die kleinen Härchen in ihrem Nacken sich aufrichteten. Einen Augenblick war sie versucht, ihn abzuweisen. Doch sie besann sich. Schließlich war dieser Vorfall nicht ihre Schuld gewesen. Niemand konnte sie für die Bosheiten des Comte de Saumurat verantwortlich machen. Das Gesicht des Chevaliers war dunkelrot vor Wut. Er packte sie am Arm und riss sie zu sich heran. Sie war so überrascht, dass sie nicht an Gegenwehr dachte. Voller Entsetzen spürte sie seinen alkoholgeschwängerten Atem, roch den Geruch seines schweißgetränkten Hemdes.
„Dreckige Hure“, zischte er sie an. „Vor aller Welt hast du mich lächerlich gemacht. Das wirst du mir büßen!“
Sie versuchte vergeblich, sich seinem harten Griff zu entwinden. Er war viel stärker, als
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