Der Graf und die Diebin
Verzeihung, sagst, dass du in den Krieg ziehen wirst.
Alles, was ich mühsam erarbeitet hatte, hast du in wenigen Sekunden zerstört.
Ich weiß jetzt nur noch, dass ich vor Angst um dich vergehe. Ich bete jede Nacht darum, dass der Krieg dich verschonen möge, und dass wir uns wiedersehen.
Lass mich dir sagen, dass ich dich liebe.
Deine Jeanne
Roger de Gironde besuchte Jeanne regelmäßig zu bestimmten Zeiten. Fast immer erschien er am späten Vormittag für kurze Zeit, nahm jedoch niemals das Mittagessen mit ihr gemeinsam ein, da er bei Hofe speiste. Am Nachmittag tauchte er gegen drei Uhr in der Wohnung auf und blieb für zwei Stunden. Hin und wieder verbrachte er auch einen Abend mit ihr – dann ließ er auserlesene Speisen und Getränke kommen, und sie unterhielten sich bis spät in die Nacht hinein. Gegen Mitternacht verließ er sie – niemals übernachtete er bei ihr in der Wohnung.
Nach einigen Wochen begann Jeanne seine Gegenwart zu genießen. Roger de Gironde war stets mit auserlesenem Geschmack gekleidet, er behandelte Jeanne mit großer Höflichkeit, und die Gespräche mit ihm waren interessant. Niemals machte er den Versuch sie zu berühren oder Zärtlichkeiten von ihr zu verlangen. Das Einzige, das Jeanne immer wieder irritierte, war sein Lächeln und die Art, wie er sie betrachtete. Er brachte ihr Geschenke, die er mit viel Überlegung für sie ausgewählt hatte, und die ihr ausnahmslos gefielen. Mal war es ein Korb mit Feigen und Erdbeeren, dann wieder eine Kristallschale, ein schön geformter Edelstein, ein Strauß bunter Blüten. Einmal brachte er eine glänzende, roséfarbige Muschel, groß wie eine Faust, und hielt sie ihr ans Ohr.
„Kannst du das Geräusch des Meeres hören?“, fragte er leise.
Jeanne lauschte in die längliche, von wulstigen Lippen umschlossene Öffnung hinein und vernahm ein geheimnisvolles Rauschen. „So klingt das Meer?“, rief sie entzückt. „Oh, wie wunderschön. So geheimnisvoll und gewaltig zugleich. Wie kann es in der Muschel sein?“
Er nahm die Muschel in die Hand und ließ seine Finger mit einer zärtlichen Bewegung über die schmale Öffnung gleiten, als wollte er sie streicheln. „Das Meer, das diese schöne Muschel in sich trägt, ist ein Teil von uns allen, Jeanne. Und wenn du seine Wellen und sein Rauschen vernimmst, dann hörst du die Melodie deines eigenen sehnsüchtigen Herzens.“
Jeanne nahm die Muschel in die Hände und befühlte die seltsam geschwungenen, wulstigen Formen des geheimnisvollen Gebildes aus rosigem Kalk. Er sah ihr lächelnd dabei zu.
Stets ließ er sich etwas Neues einfallen, und alle seine Geschenke waren Anlass zu Gesprächen, in denen sich für Jeanne andere Welten auftaten. Er konnte faszinierend von den blauen Tiefen des Meeres erzählen, von den fernen Ländern weit im Süden, in denen die Feigen wuchsen, von den Bergwerken tief unter der Erde, in denen Erze und seltene Steine abgebaut wurden. Die Geschenke, mit denen der Chevalier sie überschüttet hatte, langweilten sie – jetzt wartete sie mit kindlicher Neugier auf das, was Roger de Gironde ihr mitbrachte.
Er stellte ihr Fragen, die sie bereitwillig beantwortete. Nach ihren Eltern, ihrem Dorf, er ließ sich beschreiben, wo es sich befand und lächelte über ihre Schilderungen der Dorfbewohner. „Euer Vater war also nicht Pierre Chabrot?“
„Nein. Man sagt, er sei ein Zigeuner gewesen. Mehr weiß ich nicht.“
„Ein Zigeuner. Das würde Euer schwarzes Haar erklären, kleine Schönheit. Und vielleicht auch das überschäumende Temperament.“
Sie lachte fröhlich. „Das wäre schon möglich!“
Er berichtete häufig vom Hof des Königs, und sie hörte aufmerksam zu. Viel war ihr schon über die prächtige Hofhaltung des jungen Ludwig XIV. zu Ohren gekommen, doch Rogers Schilderungen waren völlig anders. Sachlich waren sie und sehr genau, niemals hatte sie das Gefühl, dass er übertrieb oder sie durch pompöse Beschreibungen beeindrucken wollte. Sie erfuhr, dass man den König um acht Uhr am Morgen weckte, dass dann eine auserwählte Schar von Dienern und Adeligen an seinem „lever“ teilnahmen, dass der König sich sodann zum Frühstück begab und anschließend die Messe hörte. Nach dem Frühstück pflegte Ludwig sich zu Beratungen mit seinen Ministern zu begeben, danach speiste man zu Mittag, wobei stets eine große Menge an Höflingen zugegen war. Als besondere Auszeichnung galt es, an den Tisch des Königs gebeten zu werden. Viele waren
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