Der Graf von Monte Christo 1
zahlen, wenn, wie ich hoff e, mein Schiff wohlbehalten anlangt, denn dessen Ankunft wird mir den Kredit verschaff en, den eine Folge von Unglücksfällen, deren Opfer ich geworden bin, mir geraubt hat; wenn mich aber der ›Pharao‹, diese letzte Hilfsquelle, auf die ich rechne, im Stich lassen sollte …«
Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.
»Nun«, fragte der Engländer, »wenn diese letzte Hilfsquelle Sie im Stich ließe?«
»Wohlan denn«, fuhr Morrel fort, »es ist hart, es zu sagen … aber, bereits ans Unglück gewöhnt, muß ich mich an die Schande gewöhnen … Wohlan denn, ich glaube, daß ich dann genötigt sein würde, die Zahlungen einzustellen.«
»Haben Sie denn keine Freunde, die Ihnen in dieser Lage helfen können?«
Morrel lächelte traurig.
»Im Geschäftsleben, wissen Sie ja, gibt es keine Freunde.«
»Allerdings«, murmelte der Engländer. »Also haben Sie nur noch eine Hoff nung?«
»Eine einzige.«
»Die letzte?«
»Die letzte.«
»So daß, wenn diese Hoff nung Sie täuscht …«
»Ich verloren bin, vollständig verloren.«
»Als ich hierherkam, lief ein Schiff in den Hafen ein.«
»Ich weiß es; ein junger Mann, der mir in meinem Unglück treu geblieben ist, bringt einen Teil seiner Zeit auf einem Türmchen oben im Hause zu, in der Hoff nung, mir als erster eine gute Nachricht melden zu können. Von ihm habe ich die Ankunft des Schiff es erfahren; es ist die ›Gironde‹, die auch von Indien kommt, aber es ist nicht das meine.«
»Vielleicht bringt es Ihnen Nachricht vom ›Pharao‹.«
»Ach, ich fürchte fast ebensosehr, etwas von meinem Dreimaster zu hören, als in der Ungewißheit zu bleiben.« Dann fügte er mit dumpfer Stimme hinzu: »Diese Verspätung ist nicht natürlich; der
›Pharao‹ ist am fünften Februar von Kalkutta abgefahren und müß-
te seit mehr als einem Monat hier sein.«
»Was ist das?« fragte der Engländer horchend. »Was bedeutet dieser Lärm?«
»O mein Gott, mein Gott!« rief Morrel erbleichend. »Was gibt es nun wieder?«
In der Tat ließ sich auf der Treppe ein großer Lärm vernehmen, es wurde hin und her gegangen, man hörte selbst einen Schmer-zensschrei. Morrel erhob sich, um die Tür zu öff nen, aber die Kräfte versagten ihm, und er fi el in seinen Stuhl zurück; er zitterte an allen Gliedern. Der Fremde sah ihn mit dem Ausdruck tiefen Mitleids an.
Der Lärm hatte aufgehört; es schien dem Fremden, daß man leise die Treppe heraufkam und die Tritte mehrerer Personen auf dem Flur haltmachten. Die erste Tür wurde aufgeschlossen, bald darauf öff nete sich die zweite, und bleich und mit tränenüberströmtem Gesicht trat das junge Mädchen ein.
Morrel erhob sich zitternd und stützte sich auf die Lehne seines Stuhls, denn er hätte sich nicht aufrecht zu halten vermocht. Seine Stimme wollte fragen, aber er hatte keine Stimme mehr.
»O lieber Vater«, sagte das junge Mädchen, die Hände faltend, »ver-gib deinem Kind, daß es die Überbringerin einer Unglücksbotschaft ist!«
Morrel wurde entsetzlich blaß; Julie warf sich in seine Arme.
»O Vater, Mut, Mut!«
»Also ist der ›Pharao‹ untergegangen?« fragte Morrel mit erstickter Stimme.
Das junge Mädchen antwortete nicht, machte aber ein bejahendes Zeichen mit dem Kopf.
»Und die Mannschaft?« fragte Morrel.
»Gerettet«, antwortete das junge Mädchen, »von dem Schiff , das soeben eingelaufen ist.«
Morrel hob mit einem Ausdruck von Ergebung und tiefster Dankbarkeit beide Hände zum Himmel auf.
»Ich danke dir, mein Gott«, sagte er; »wenigstens triff st du nur mich allein.«
So phlegmatisch der Engländer war, so feuchtete doch eine Träne seine Wimper.
»Kommt herein«, sagte Morrel, »kommt herein, denn ich vermute, daß ihr alle vor der Tür seid.«
In der Tat hatte er kaum diese Worte gesprochen, so trat seine Frau schluchzend ein, Emanuel folgte ihr; hinten im Vorzimmer sah man die rauhen Gesichter von sieben oder acht halbnackten Seeleuten.
Beim Anblick dieser Männer erbebte der Engländer; er machte einen Schritt, wie um auf sie zuzugehen, beherrschte sich aber und zog sich im Gegenteil in den dunkelsten und entferntesten Winkel des Zimmers zurück.
Frau Morrel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm die Hände ihres Gatten in die ihren, während Julie an die Brust ihres Vaters geschmiegt blieb. Emanuel war auf halbem Weg zwischen der Tür und der Familie Morrel stehengeblieben und schien als Bindeglied zwischen dieser und den Seeleuten an
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