Der Graf von Monte Christo 1
tut, das heißt, ich blies ihm Luft in die Lunge. Nach einer Viertelstunde, während der ich ihm unausgesetzt Luft einblies, begann das Kind zu atmen, und der kleinen Brust entfuhr ein Schrei.
Auch ich stieß einen Schrei, aber einen Freudenschrei aus. Gott verfl ucht mich also nicht, sagte ich mir, da er es so fügt, daß ich für das Leben, das ich dem einen genommen habe, einem andern menschlichen Wesen das Leben wiedergebe!«
»Und was machten Sie mit diesem Kind?« fragte Monte Christo.
»Es mußte für einen auf der Flucht Befi ndlichen ein ziemlich lästiges Gepäck sein.«
»Ich hatte auch nicht einen Augenblick den Gedanken, es zu behalten. Aber ich wußte, daß es in Paris ein Hospiz gab, wo man solche armen Geschöpfe aufnimmt. Beim Passieren der Barriere er-klärte ich, das Kind unterwegs gefunden zu haben, und erkundigte mich. Das Vorhandensein des Kastens ließ an meine Worte glauben; die batistenen Windeln deuteten darauf hin, daß das Kind reichen Eltern angehörte; das Blut, mit dem ich bedeckt war, konnte ebensogut von dem Kind herrühren wie von sonst jemand. Man ließ mich ungehindert gehen und bezeichnete mir das Hospiz, das sich ganz am Ende der Rue d’Enfer befand. Nachdem ich die Vorsicht gebraucht hatte, die Windel entzweizuschneiden, so daß einer der beiden Buchstaben, mit denen sie gekennzeichnet war, an dem Stück blieb, das das Kind umhüllte, während ich das Stück mit dem andern Buchstaben behielt, setzte ich den Kasten mit dem Kind in den Turm, zog die Glocke und lief eilends davon. Vierzehn Tage darauf war ich wieder in Rogliano und sagte zu Assunta:
›Tröste dich, Schwägerin, Israel ist tot, aber ich habe ihn ge-rächt.‹
Sie fragte mich, was diese Worte bedeuten sollten, und ich erzähl-te ihr alles, was sich ereignet hatte.
›Giovanni‹, sagte Assunta zu mir, ›du hättest das Kind mitbringen sollen; wir hätten Elternstelle an ihm vertreten, hätten es Benedetto genannt, und Gott hätte uns wegen dieser guten Tat gesegnet.‹
Statt aller Antwort gab ich ihr die Hälfte der Windel, die ich behalten hatte, um das Kind dereinst, wenn es uns besser gehen wür-de, zurückzuverlangen.«
»Mit welchen Buchstaben war diese Windel gekennzeichnet?«
fragte Monte Christo.
»Mit einem H und einem N mit darüber gestickter
Baronskrone.«
»Wo haben Sie denn Ihre heraldischen Studien gemacht, Herr Bertuccio?«
»In Ihrem Dienst, Herr Graf, wo man alles lernt.«
»Fahren Sie fort, ich bin neugierig, zweierlei zu erfahren.«
»Was denn, gnädiger Herr?«
»Was aus dem kleinen Jungen geworden ist. Haben Sie nicht gesagt, daß es ein Junge war, Herr Bertuccio?«
»Nein, Exzellenz; ich erinnere mich nicht, davon gesprochen zu haben.«
»Ah, ich glaubte, es gehört zu haben; dann werde ich mich ge-täuscht haben.«
»Nein, Sie haben sich nicht getäuscht, denn es war in der Tat ein Junge; aber Exzellenz wünschten zweierlei zu wissen. Was ist das zweite?«
»Das zweite wäre das Verbrechen, dessen Sie angeklagt waren, als Sie einen Beichtvater verlangten und der Abbé Busoni Sie darauf in dem Gefängnis von Nîmes besuchte.«
»Vielleicht wird Ihnen die Erzählung zu lang vorkommen, Exzellenz.«
»Was schadet’s? Es ist kaum zehn Uhr; Sie wissen, daß ich nicht schlafe, und ich nehme an, daß auch Sie keine große Lust dazu haben.«
Bertuccio verneigte sich und nahm seine Erzählung wieder auf, von der hier nur das für die nachfolgenden Ereignisse Wichtige kurz wiedergegeben werden soll.
Seine Unternehmungen als Schmuggler glückten ihm, so daß er sie allmählich ausdehnte und seine Ersparnisse wuchsen. Als er eines Tages von einer sechswöchigen Fahrt zurückkehrte, hatte Assunta das Kind von Paris geholt, das man ihr, da sie die Hälfte der Windel vorgezeigt und Tag und Stunde der Einlieferung angegeben hatte, ohne weitere Schwierigkeiten überlassen hatte. Es war ein reizender Junge mit blauen Augen, milchweißer Haut und rot-blonden Haaren. Der Knabe, den sie Benedetto nannten, wurde von Assunta wie ein Prinz behandelt, off enbarte aber bald einen boshaf-ten Charakter und machte durch seine schlechten Streiche und seinen Widerwillen gegen jede Arbeit seinen Pfl egeeltern viele Sorgen.
Der Gedanke, daß er den Vater des Knaben getötet hatte, machte es Bertuccio unmöglich, ihn gebührend zu züchtigen. Bertuccio beschloß deshalb, ihn auch gegen seinen Willen als Sekretär auf einem Schiff unterzubringen.
Dieser Plan wurde aber nicht ausgeführt. Eines
Weitere Kostenlose Bücher