Der Graf von Monte Christo 2
Grafen.
»Zudem«, fuhr der Graf mit so veränderter Stimme fort, daß man hätte daran zweifeln können, ob diese Worte aus dem Munde desselben Mannes kämen, »zudem, wer sagt Ihnen, daß es wieder anfangen wird?«
»Es fängt wieder an, Graf«, rief Morrel, »und deshalb bin ich zu Ihnen geeilt.«
»Nun, was soll ich denn dabei tun, Morrel? Soll ich vielleicht dem Staatsanwalt Anzeige erstatten?«
Monte Christo sprach diese Worte mit einer so eigenen Betonung aus, daß Morrel aufsprang und rief: »Graf, Graf, Sie wissen, von wem ich spreche, nicht wahr?«
»Vollkommen, mein lieber Freund. Sie sind eines Abends im Garten des Herrn von Villefort spazierengegangen; nach dem, was Sie mir gesagt haben, nehme ich an, daß es an dem Sterbetag der Frau von Saint-Méran war. Sie haben Herrn von Villefort mit Herrn d’Avrigny über den Tod des Marquis und den nicht weniger überra-schenden der Marquise sprechen hören. Herr d’Avrigny sagte, daß er an eine Vergiftung, selbst an eine doppelte Vergiftung glaube, und Sie, als ehrlicher Mann, quälen sich nun seitdem damit ab, ob Sie dieses Geheimnis off enbaren oder verschweigen sollen. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, lieber Freund, und es gibt keine heilige Feme mehr! Was, zum Teufel, verlangen Sie von diesen Leuten?
›Gewissen, was willst du von mir?‹, wie Sterne sagt. Ei, mein Lieber, lassen Sie sie schlafen, wenn sie schlafen, oder lassen Sie sie in ihren schlafl osen Nächten sich quälen, und schlafen Sie in Frieden, Sie, den keine Gewissensbisse am Schlaf hindern.«
Ein furchtbarer Schmerz malte sich auf den Zügen Morrels; er ergriff Monte Christos Hand und sagte: »Aber ich sage Ihnen doch, es fängt schon wieder an.«
»Nun denn«, entgegnete Monte Christo, indem er Maximilian, dessen Benehmen er nicht verstand, aufmerksam ansah, »lassen Sie es wieder anfangen; Gott hat diese Familie verdammt, sie werden alle vom Erdboden verschwinden. Vor drei Monaten war’s Herr von Saint-Méran, vor zwei Monaten die Marquise, neulich Barrois, heute ist’s der alte Noirtier oder Valentine.«
»Sie wußten es?« rief Morrel mit solchem Entsetzen, daß selbst Monte Christo erbebte. »Sie wußten es und sagten nichts?«
»Nun, was liegt mir daran?« entgegnete Monte Christo, die Schultern zuckend. »Kenne ich diese Leute, und soll ich den einen verderben, um den andern zu retten? Mir ist das Opfer nicht mehr wert als der Schuldige selbst.«
»Aber mir, mir!« rief Morrel, vor Schmerz schreiend. »Ich liebe sie!«
»Sie lieben wen?« rief Monte Christo, indem er aufsprang.
»Ich liebe wahnsinnig, liebe wie ein Mann, der jeden Blutstropfen hingeben würde, um ihr eine Träne zu ersparen, Valentine von Villefort, die man in diesem Augenblick hinmordet. Ich habe die Erlaubnis, sie heimlich, ohne Wissen ihres Vaters, in den Gemächern ihres Großvaters zu besuchen. Eben war ich mit ihr und ihrem Großvater zusammen, und sie erkrankte plötzlich. Es gelang mir, ungesehen aus dem Haus zu kommen, und ich eilte zu Ihnen. Ich liebe sie und frage Gott und Sie, wie ich sie retten kann.«
Monte Christo stieß einen wilden Schrei aus. »Unglücklicher!«
rief er. »Du liebst Valentine, liebst die Tochter dieses verfl uchten Geschlechts!«
Nie hatte Morrel einen ähnlichen Ausdruck auf dem Gesicht eines Menschen gesehen, nie hatte ein so schreckliches Auge vor ihm gefl ammt. Er wich entsetzt zurück.
Monte Christo schloß nach diesem Ausbruch einen Augenblick die Augen; er nahm seine ganze Kraft zusammen, um seiner Erregung Herr zu werden, und man sah, wie seine wild wogende Brust sich allmählich beruhigte. Dann richtete er seine bleiche Stirn wieder auf.
»Sehen Sie«, sagte er mit kaum bewegter Stimme, »sehen Sie, lieber Freund, wie Gott diejenigen, die mit prahlerischem Gleichmut die schrecklichen Schauspiele, die er ihnen gibt, mit ansehen, für ihre Gleichgültigkeit zu strafen weiß. Ich, der ich unbeteiligt und neugierig dieser traurigen Tragödie zusah, der ich gleich dem bösen Engel über das Böse lachte, das die Menschen im verborgenen – und es ist den Reichen und Mächtigen leicht, im verborgenen zu bleiben – begehen, ich fühle mich nun selbst von der Schlange gebissen, deren Schleichen ich zusah, und ins Herz gebissen.«
Morrel stieß ein dumpfes Stöhnen aus.
»Nun«, fuhr der Graf fort, »genug des Klagens; seien Sie ein Mann, seien Sie stark und hoff nungsvoll; denn ich bin da, ich wache über Sie.«
Morrel schüttelte traurig den
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