Der Graf von Monte Christo 2
werde.
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Grau und trübe brach der folgende Tag an. Die Totenfrauen hatten während der Nacht ihr trauriges Werk getan und die Leiche in das Totentuch genäht. Dieses Totentuch war ein Stück prächtiger Batist, den das junge Mädchen vor vierzehn Tagen gekauft hatte.
Noirtier hatte gegen alle Erwartung keine Schwierigkeiten gemacht, als man ihn am Abend aus Valentines Zimmer wieder in sein eigenes gebracht hatte. Der Abbé Busoni hatte bis zum Morgen bei der Toten gewacht und sich dann zurückgezogen, ohne jemand zu rufen.
Gegen acht Uhr morgens war d’Avrigny gekommen; er hatte Villefort getroff en, der zu Noirtier ging, und ihn begleitet, um zu hö-
ren, wie der Greis die Nacht zugebracht habe. Sie fanden ihn in dem großen Lehnstuhl, der ihm als Bett diente, in sanftem Schlummer und fast lächelnd. Beide machten erstaunt auf der Schwelle halt.
»Sehen Sie«, sagte d’Avrigny zu Villefort, der seinen schlafenden Vater betrachtete, »die Natur weiß den heftigsten Schmerz zu beruhigen. Niemand wird sagen, daß Herr Noirtier seine Enkelin nicht liebte, und dennoch schläft er.«
»Ja, Sie haben recht«, antwortete Villefort; »er schläft, und das ist höchst seltsam, denn die geringste Widerwärtigkeit hält ihn ganze Nächte wach.«
»Der Schmerz hat ihn übermannt«, entgegnete d’Avrigny, und beide begaben sich in das Arbeitszimmer des Staatsanwalts.
»Sehen Sie, ich habe nicht geschlafen«, sagte Villefort, indem er d’Avrigny sein unberührtes Bett zeigte; »mich übermannt der Schmerz nicht, ich habe mich seit zwei Nächten nicht niedergelegt; aber sehen Sie dafür meinen Schreibtisch an; was habe ich geschrieben, mein Gott! Während zweier Tage und Nächte habe ich die Akten und die Anklageschrift des Mörders Benedetto durchge-arbeitet …! O Arbeit, Arbeit, meine Leidenschaft, meine Freude, du mußt alle meine Schmerzen niederzwingen!« Er drückte krampfhaft die Hand des Arztes.
»Bedürfen Sie meiner?« fragte d’Avrigny.
»Nein«, antwortete Villefort, »nur kommen Sie, bitte, um elf Uhr wieder; gegen Mittag wird die Bestattung sein … Mein Gott! Mein armes Kind! Mein armes Kind!«
Und der Staatsanwalt, der wieder Mensch geworden war, blickte zum Himmel und stieß einen Seufzer aus.
»Werden Sie im Empfangszimmer sein?«
»Nein, ich habe einen Vetter, der diese traurige Ehre auf sich nimmt. Ich werde arbeiten, Doktor; wenn ich arbeite, verschwindet alles.«
In der Tat war der Arzt noch nicht an der Tür, da hatte sich der Staatsanwalt schon wieder an die Arbeit gesetzt. –
Während die Bekannten des Staatsanwalts sich im Trauerhaus ein-fanden, fuhr Monte Christo vor dem Danglarsschen Hause vor.
Der Bankier hatte vom Fenster aus den Wagen des Grafen in den Hof fahren sehen und war ihm mit traurigem, aber liebenswürdi-gem Gesicht entgegengegangen.
»Nun, Herr Graf«, sagte er, indem er Monte Christo die Hand entgegenstreckte, »Sie kommen, um mir Ihr Beileid zu bezeigen.
Wahrhaftig, das Unglück ist in meinem Haus; ja, als ich Sie eben bemerkte, fragte ich mich gerade, ob ich nicht etwa diesen armen Morcerfs Unglück gewünscht hätte und deshalb selbst getroff en worden wäre. Aber nein, auf Ehre, ich wünschte Morcerf nichts Böses; er war vielleicht für einen Mann, der aus dem Nichts her-vorgegangen ist wie ich, der alles sich selbst verdankt wie ich, etwas stolz; aber jeder hat seine Fehler. Oh, halten Sie sich gut, Graf, die Leute unserer Generation … aber Pardon, Sie gehören nicht zu unserer Generation, Sie sind ein junger Mann … die Leute unserer Generation sind dieses Jahr nicht glücklich. Beweis: unser Puritaner von Staatsanwalt, Villefort, der jetzt auch noch seine Tochter verloren hat. Sehen Sie: Villefort verliert seine ganze Familie in sonderbarer Weise; Morcerf entehrt und Selbstmörder; ich durch diesen Bösewicht von Benedetto mit Lächerlichkeit bedeckt, und dann …«
»Dann, was?« fragte der Graf.
»Ach, Sie wissen es noch nicht?«
»Ein neues Unglück?«
»Meine Tochter … verläßt uns.«
»Mein Gott, was Sie sagen!«
»Tatsächlich, mein lieber Graf. Gott, wie glücklich Sie sind, weder Frau noch Kind zu haben!«
»Finden Sie?«
»Wahrhaftig!«
»Und Sie sagen, daß Fräulein Eugenie …«
»Sie hat den Schimpf, den uns dieser Elende angetan hat, nicht ertragen können und mich um die Erlaubnis gebeten zu reisen.«
»Und sie ist abgereist?«
»Neulich nacht.«
»Mit
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