Der Graf von Monte Christo 2
war, öff nete Villefort selbst. Aber er blieb auf dem Flur stehen; er hatte nicht mehr den Mut, das Sterbezimmer zu betreten. Die beiden Ärzte gingen allein zu Valentine.
Noirtier saß neben dem Bett, bleich wie die Tote, unbeweglich und stumm wie diese. Der Totenarzt trat an das Bett mit der Gleichgültigkeit eines Mannes, der die Hälfte seines Lebens mit Leichen zubringt; er hob das Tuch auf, das das Mädchen bedeckte, und öff nete nur leicht die Lippen.
»Oh«, sagte d’Avrigny seufzend, »das arme Kind ist tot.«
»Ja«, antwortete lakonisch der Totenarzt, indem er das Gesicht Valentines wieder zudeckte.
Noirtier ließ ein dumpfes Röcheln hören. D’Avrigny wandte sich um, die Augen des Greises funkelten. Der Arzt verstand, daß Noirtier sein Kind sehen wollte; er schob ihn ans Bett und enthüllte das stille bleiche Gesicht. Eine Träne im Auge Noirtiers war der Dank für den Doktor.
Der Totenarzt, der sich unterdessen die Finger, mit denen er die Lippen der Verstorbenen berührt hatte, in Chlorwasser gewaschen hatte, schrieb an einem Tisch sein Protokoll nieder und wurde dann von d’Avrigny hinausgeleitet. Villefort hörte sie herabkommen und erschien an der Tür seines Arbeitszimmers. Er dankte dem Totenarzt mit einigen Worten und sagte, sich an d’Avrigny wendend: »Und jetzt der Priester?«
»Haben Sie einen Geistlichen, den Sie besonders gern damit be-auftragen möchten, bei Valentine zu beten?« fragte d’Avrigny.
»Nein«, antwortete Villefort, »gehen Sie bitte zu dem nächsten.«
»Der nächste«, bemerkte der Totenarzt, »ist ein braver italienischer Abbé, der Ihr Nachbarhaus bezogen hat. Soll ich ihn benachrichtigen?«
»Herr d’Avrigny«, sagte Villefort, »wollen Sie so gütig sein, den Herrn zu begleiten? Hier ist der Schlüssel, damit Sie nach Belieben ein- und ausgehen können. Bringen Sie den Priester her und übernehmen Sie es, ihn in das Zimmer meines armen Kindes zu führen.«
»Wünschen Sie mit ihm zu sprechen, mein Freund?«
»Ich möchte allein sein. Sie werden mich entschuldigen, nicht wahr? Ein Priester muß alle Schmerzen verstehen, auch den väterlichen.«
Herr von Villefort gab Herrn d’Avrigny einen Schlüssel, grüßte den fremden Arzt und trat wieder in sein Zimmer, wo er zu arbeiten begann. Für manche Naturen ist die Arbeit das Heilmittel für alle Schmerzen.
In dem Augenblick, da beide auf die Straße traten, bemerkten sie vor der Nachbartür einen Mann im Priesterkleid.
»Da ist er, von dem ich gesprochen habe«, sagte der Totenarzt zu d’Avrigny. Dieser trat an den Geistlichen heran.
»Mein Herr«, sagte er zu ihm, »wären Sie geneigt, einem unglücklichen Vater, der soeben seine Tochter verloren hat, dem Herrn Staatsanwalt von Villefort, einen Dienst zu leisten?«
»Ah, mein Herr«, antwortete der Priester mit ausgesprochen ita-lienischem Akzent, »ja, ich weiß, der Tod ist in seinem Haus.«
»Dann brauche ich Ihnen nicht zu sagen, welchen Dienst er von Ihnen erwartet.«
»Ich wollte mich eben dazu erbieten«, entgegnete der Priester; »es ist unsere Pfl icht, unsern Aufgaben entgegenzugehen.«
»Es ist ein junges Mädchen.«
»Ja, ich weiß; ich habe es von den Dienstboten gehört, die ich aus dem Hause habe fl iehen sehen. Ich habe erfahren, daß sie Valentine hieß, und habe schon für sie gebetet.«
»Dank, Dank, mein Herr«, sagte d’Avrigny, »und da Sie schon angefangen haben, Ihren heiligen Dienst auszuüben, setzen Sie ihn gütigst fort. Kommen Sie an das Totenbett, eine ganze trauernde Familie wird Ihnen dankbar sein.«
»Ich komme«, antwortete der Abbé, »und ich wage zu sagen, daß nie inbrünstigere Gebete zum Himmel aufsteigen werden als die meinen.«
D’Avrigny führte den Abbé in das Zimmer Valentines, die erst in der folgenden Nacht eingesargt werden sollte. Villefort hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und blieb unsichtbar.
Als sie das Zimmer betraten, war der Blick Noirtiers dem des Abbés begegnet, und der Greis glaubte etwas Besonderes darin zu lesen, denn er wandte kein Auge mehr von ihm. D’Avrigny empfahl dem Priester nicht nur die Tote, sondern auch den Lebenden, und der Priester versprach ihm, seine Gebete der Toten und seine Fürsorge Herrn Noirtier zu widmen.
Sobald Herr d’Avrigny gegangen war, verriegelte der Abbé nicht nur die Tür zur Treppe, sondern auch die zu den Gemächern der Frau von Villefort, jedenfalls, damit er nicht bei seinem Beten und Noirtier nicht in seinem Schmerz gestört
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