Der Graf von Monte Christo 2
Erdgeschoß trennten, zurückgelegt. Auf dem Flur angekommen, horchte er; kein Geräusch ließ sich vernehmen. Wie in den meisten alten, nur von einer Familie bewohnten Häusern war der Flur nur durch eine Glastür abgeschlossen. Aber in dieser Glastür war kein Schlüssel. Maximilian hatte sich eingeschlossen, und es war unmöglich, durch die mit einer rotseidenen Gardine verhängten Scheiben hindurchzusehen.
Die Angst des Grafen zeigte sich an der Röte seines Gesichts, ein bei diesem ruhigen Mann höchst ungewöhnliches Zeichen der Erregung.
»Was tun?« murmelte er; dann überlegte er einen Augenblick.
»Klingeln?« fuhr er fort. »O nein, der Klang einer Glocke, das heißt eines Besuchs, beschleunigt oft den Entschluß derjenigen, die sich in der Lage befi nden, in der Maximilian sich in diesem Augenblick befi nden muß, und dann antwortet auf den Ton der Glocke ein andrer Ton.«
Monte Christo schauderte bei diesem Gedanken vom Kopf bis zu den Füßen. Mit blitzschnellem Entschluß stieß er mit dem Ellbogen eine der Scheiben ein und hob die Gardine in die Höhe. Er erblickte Morrel, der, mit einer Feder in der Hand, an seinem Schreibtisch sitzend, beim Klirren der zerbrochenen Scheibe zusammengefahren war.
»Es ist nichts«, sagte der Graf, »verzeihen Sie, lieber Freund; ich bin ausgeglitten und habe dabei mit dem Ellbogen Ihre Scheibe ein-gestoßen. Da sie zerbrochen ist, werde ich das Loch benutzen, um die Tür zu öff nen; bemühen Sie sich also nicht.«
Er steckte den Arm durch die zerbrochene Scheibe und öff nete die Tür. Morrel erhob sich; der Besuch war ihm off enbar unangenehm; er ging Monte Christo entgegen, weniger um ihn zu empfangen, als um ihm den Weg zu versperren.
»Es ist die Schuld Ihrer Dienstboten«, sagte Monte Christo und rieb sich den Ellbogen; »Ihr Parkett glänzt wie ein Spiegel.«
»Haben Sie sich verletzt?« fragte Morrel kalt.
»Ich weiß nicht. Aber was machten Sie denn da? Sie haben geschrieben?«
»Ich?«
»Ihre Finger sind ja voll Tinte.«
»Allerdings«, antwortete Morrel, »ich schrieb; das passiert mir manchmal, sosehr ich auch Soldat bin.«
Monte Christo tat einige Schritte ins Zimmer. Maximilian mußte ihn durchlassen, aber er folgte ihm.
»Sie haben geschrieben?« fragte Monte Christo nochmals, indem er Morrel scharf ansah.
»Ich habe schon die Ehre gehabt, das zu bejahen.«
Der Graf warf einen Blick umher.
»Ihre Pistolen neben dem Schreibzeug!« sagte er, indem er auf die auf dem Schreibtisch liegenden Pistolen zeigte.
»Ich will verreisen«, antwortete Maximilian.
»Mein Freund!« sagte Monte Christo mit weicher Stimme.
»Herr Graf!«
»Mein Freund, mein lieber Maximilian, keine Unüberlegtheiten, ich bitte Sie!«
»Ich Unüberlegtheiten!« entgegnete Morrel, die Schultern zuckend.
»Inwiefern ist denn eine Reise eine Unüberlegtheit?«
»Maximilian«, sagte Monte Christo, »legen wir beide die Maske ab. Sie täuschen mich nicht mit Ihrer Ruhe, ich täusche Sie nicht mit meinen Reden. Sie verstehen, daß ich eine wirkliche Sorge oder vielmehr eine furchtbare Überzeugung haben muß, wenn ich so gewaltsam bei einem Freund eindringe. Morrel, Sie wollen sich das Leben nehmen!«
»Ei«, entgegnete Morrel bebend, »wie kommen Sie auf solche Gedanken, Herr Graf?«
»Ich sage Ihnen, Sie wollen sich das Leben nehmen!« fuhr der Graf in demselben Ton fort. »Und hier ist der Beweis.«
Dabei trat er an den Schreibtisch, hob das leere Blatt auf, das Morrel über einen angefangenen Brief geworfen hatte, und nahm den Brief. Morrel stürzte herbei, um ihm den Brief aus den Händen zu reißen; Monte Christo aber hatte das vorausgesehen und hielt mit eiserner Hand seinen Arm fest.
»Da, sehen Sie, daß Sie sich das Leben nehmen wollten, Morrel!«
sagte er. »Da steht’s geschrieben.«
»Nun«, rief Morrel, von seiner scheinbaren Ruhe plötzlich in Erregung übergehend, »nun, und wenn es der Fall wäre, wenn ich beschlossen hätte, diese Pistole gegen mich zu richten, wer würde mich daran hindern? Wenn ich sage: Alle meine Hoff nungen sind vernichtet, mein Herz ist gebrochen, mein Leben zerstört, es ist nur noch Trauer und Ekel um mich her, die Erde ist Asche geworden, jede menschliche Stimme zerreißt mir das Herz; wenn ich sage: Es ist Barmherzigkeit, mich sterben zu lassen, denn wenn Sie mich nicht sterben lassen, verliere ich den Verstand, werde wahnsinnig; sagen Sie, wenn ich das mit Tränen und wehem Herzen sage, wird man mir antworten: Du hast
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