Der Graf von Monte Christo 2
Augen, leiden zu sehen, meinen Mund, beim Schrecklichsten zu lächeln. Gut, vertrauend, vergessend, wie ich war, wurde ich rachsüchtig, berechnend, boshaft oder vielmehr gefühllos wie das taube und blinde Schicksal.
Dann beschritt ich den Weg, der mir geöff net war, ich durchmaß ihn ganz und erreichte das Ziel. Wehe denjenigen, die ich auf meinem Wege traf!«
»Genug!« sagte Mercedes. »Genug, Edmund! Glauben Sie, daß die, welche allein Sie erkannt, Sie auch allein zu verstehen vermocht hat. Edmund, diejenige, die Sie zu erkennen und zu verstehen vermocht hat, sie hat Sie bewundern müssen, hätten Sie sie auch auf Ihrem Wege getroff en und wie Glas zerbrochen! Ein Abgrund gähnt zwischen mir und der Vergangenheit, ein Abgrund zwischen Ihnen und den andern Menschen, und meine größte Qual, das sage ich Ihnen, ist, Vergleiche anzustellen; denn es gibt nichts auf der Welt, was Ihnen gleicht. Jetzt sagen Sie mir Lebewohl, Edmund, lassen Sie uns scheiden.«
»Ehe ich Sie verlasse, frage ich Sie: Was wünschen Sie, Mercedes?«
fragte Monte Christo.
»Ich wünsche nur eins, Edmund: daß mein Sohn glücklich sei.«
»Bitten Sie Gott, der allein das Dasein der Menschen in Händen hält, den Tod von ihm fernzuhalten, das übrige nehme ich auf mich.«
»Dank, Edmund.«
»Aber Sie, Mercedes?«
»Ich brauche nichts, ich lebe zwischen zwei Gräbern; das eine ist das Edmund Dantès’, der seit langem tot ist; ich liebte ihn! Das Wort paßt schlecht zu meinen welken Lippen, aber mein Herz erinnert sich noch, und ich möchte um nichts auf der Welt dieses Erinnern des Herzens verlernen. Das andere ist das eines Mannes, den Edmund Dantès getötet hat; ich billige die Tat, aber ich muß für den Toten beten.«
»Ihr Sohn wird glücklich sein«, wiederholte der Graf.
»Dann werde ich so glücklich sein, wie ich es sein kann.«
»Aber … was werden Sie tun?«
Mercedes lächelte traurig. »Wenn ich Ihnen sagte, daß ich hier leben werde wie die Mercedes von ehemals, das heißt, indem ich arbeite, so würden Sie es nicht glauben; ich kann nur noch beten, ich brauche auch nicht zu arbeiten; der kleine Schatz, den Sie vergraben hatten, hat sich an der von Ihnen bezeichneten Stelle gefunden; man wird sich erkundigen, wer ich bin, was ich tue, man wird nicht wissen, wie ich lebe; was macht das? Das ist eine Sache zwischen Gott, Ihnen und mir.«
»Mercedes«, sagte der Graf, »ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber Sie haben das Opfer übertrieben, indem Sie das ganze von Herrn von Morcerf gesammelte Vermögen aufgaben; denn die Hälfte davon rührte von Ihrer Sparsamkeit und Ihrer Umsicht her.«
»Ich sehe, was Sie mir vorschlagen wollen; aber ich kann es nicht annehmen, Edmund. Mein Sohn würde es mir verbieten.«
»Ich werde nichts für Sie tun, was nicht die Billigung des Herrn Albert von Morcerf hat. Ich werde erfahren, was seine Meinung ist, und mich ihr unterwerfen. Aber wenn er das, was ich tun will, an-nimmt, werden Sie ihm ohne Widerstand folgen?«
»Sie wissen, Edmund, wie sehr das Leben mich mit seinen Stürmen geschüttelt hat, so sehr, daß ich den Willen verloren habe.«
Monte Christo erblaßte und senkte den Kopf vor ihrem Schmerz.
»Wollen Sie mir nicht auf Wiedersehen sagen?« fragte er, indem er ihr die Hand reichte.
»Gewiß, ich sage Ihnen: Auf Wiedersehen«, entgegnete Mercedes, indem sie feierlich zum Himmel deutete.
Und nachdem Mercedes mit ihrer zitternden Hand die Hand des Grafen berührt hatte, eilte sie zur Treppe und entschwand den Augen des Grafen.
Monte Christo ging langsam aus dem Haus und schlug den Weg zum Hafen ein.
Aber Mercedes sah ihn nicht sich entfernen, obgleich sie an dem Fenster des kleinen Zimmers unter dem Dach stand, das Dantès’
Vater einst bewohnt hatte. Ihre Augen suchten in der Ferne das Schiff , das ihren Sohn dem weiten Meer zuführte. Ihre Stimme murmelte wie gegen ihren Willen: »Edmund, Edmund, Edmund!«
D V
Der Graf schied mit Weh im Herzen von dem Haus, in dem er Mercedes zurückließ, um sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie wiederzusehen.
Seit dem Tode des kleinen Eduard war eine große Veränderung in Monte Christo vor sich gegangen. Auf dem Gipfel seiner Rache angekommen, hatte er auf der andern Seite den Abgrund des Zweifels gesehen.
Dazu hatte die Unterhaltung, die er soeben mit Mercedes gehabt hatte, so viele Erinnerungen in seinem Herzen wachgerufen, daß diese Erinnerungen selbst bekämpft werden
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