Der Graf von Monte Christo 2
Totengräber sagten dann, was sie bis dahin nicht zu sagen gewagt hatten, daß sie nämlich in dem Augenblick, wo der Körper hinabgeschleudert wurde, einen entsetzlichen Schrei gehört hatten, der sofort durch das Wasser, in dem der Körper verschwand, erstickt wurde.«
Der Graf atmete mühsam, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und die Angst preßte ihm das Herz zusammen.
»Nein«, murmelte er, »nein! Dieser Zweifel, den ich empfunden habe, war der Anfang des Vergessens; aber hier wird das Herz von neuem durstig nach Rache.«
»Und der Gefangene«, fragte er, »hat man nie etwas von ihm ge-hört?«
»Nein, niemals; sehen Sie, es war zweierlei möglich: Entweder ist er platt gefallen, und da die Höhe einige fünfzig Fuß betrug, so wird er auf der Stelle getötet worden sein.«
»Sie haben gesagt, man habe ihm eine Kugel an die Füße gebunden; er wird also aufrecht gefallen sein.«
»Oder er ist aufrecht gefallen«, fuhr der Hausmeister fort, »und dann hat ihn die Kugel unweigerlich in die Tiefe gezogen, wo der arme Kerl geblieben ist.«
»Sie bedauern ihn?«
»Wahrhaftig, ja, obgleich er in seinem Element war.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Es ging das Gerücht, daß dieser Unglückliche früher Schiff soffi zier war und wegen Bonapartismus in den Kerker geworfen worden sei.«
»Hat man nie seinen Namen erfahren?« fragte der Graf.
»Na, wie sollte man das!« entgegnete der Hausmeister. »Er war nur als Nummer vierunddreißig bekannt.«
»Villefort, Villefort!« murmelte Monte Christo, »das hast du dir oft sagen müssen, wenn mein Geist dir in schlafl osen Nächten erschien.«
»Wollen Sie sich noch mehr ansehen?« fragte der Führer.
»Ja, ich möchte besonders den Kerker des armen Abbés sehen.«
»Der Nummer siebenundzwanzig?«
»Ja, der Nummer siebenundzwanzig«, wiederholte Monte Christo.
Und es war ihm, als ob er wieder die Stimme des Abbés Faria hör-te, als er ihn nach seinem Namen gefragt und dieser ihm durch die Mauer diese Nummer zugerufen hatte.
»Kommen Sie.«
»Warten Sie«, sagte Monte Christo, »lassen Sie mich noch einmal einen Blick in diesen Kerker werfen.«
»Das paßt gut«, entgegnete der Führer, »ich habe den Schlüssel zu dem andern vergessen.«
»Holen Sie ihn.«
»Ich lasse Ihnen die Fackel hier.«
»Nein, nehmen Sie sie mit.«
»Da werden Sie aber ohne Licht sein.«
»Ich sehe im Dunkeln.«
»Gerade wie er.«
»Wie wer?«
»Nummer vierunddreißig. Er soll sich so an die Dunkelheit ge-wöhnt haben, daß er eine Stecknadel in der fi nstersten Ecke seines Verlieses habe sehen können.«
»Er hat zehn Jahre gebraucht, um das zu erreichen«, murmelte der Graf.
Der Führer entfernte sich und nahm die Fackel mit.
Der Graf hatte wahr gesprochen: Kaum war er einige Sekunden im Dunkeln, so unterschied er alles wie am lichten Tag. Nun sah er sich um und erkannte seinen Kerker.
»Ja«, sagte er, »da ist der Stein, auf den ich mich setzte, da die Spur meiner Schultern, die ihren Eindruck in der Mauer gelassen haben!
Da die Spur des Blutes, das mir von der Stirn fl oß, als ich mir eines Tages den Kopf an der Wand zerschmettern wollte …! Oh, diese Zahlen … ich erinnere mich ihrer … ich machte sie eines Tages, als ich das Alter meines Vaters berechnete, um zu wissen, ob es wahrscheinlich sei, daß ich ihn noch am Leben fi nden würde, und das Alter Mercedes’, um zu wissen, ob ich sie noch frei fi nden würde.
Nach dieser Berechnung hatte ich einen Augenblick Hoff nung, ich rechnete ohne den Hunger und die Treulosigkeit.«
Ein bitteres Lachen entfuhr dem Munde des Grafen. Er hatte wie im Traum seinen Vater zu Grabe tragen, Mercedes an den Altar treten sehen.
An der andern Mauer fi el ihm eine Inschrift auf, die sich noch weiß von dem grünlichen Stein abhob. »Mein Gott«, las er, »erhalte mir das Gedächtnis!«
»O ja!« rief er, »das war mein einziges Gebet in der letzten Zeit.
Ich bat nicht mehr um Freiheit, sondern um das Gedächtnis; ich fürchtete, wahnsinnig zu werden und zu vergessen. Mein Gott, du hast mir das Gedächtnis erhalten, und ich habe mich erinnert.«
In diesem Augenblick spiegelte sich das Licht der Fackel an den Mauern; der Hausmeister kam zurück. Monte Christo ging ihm entgegen.
»Folgen Sie mir«, sagte der Mann und führte ihn durch einen un-terirdischen Gang zu einem andern Eingang.
Hier wurde Monte Christo wieder von einer Welt von Gedanken ergriff en. Das erste, was er in der Zelle erblickte, war der an die
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