Der Graf von Monte Christo 2
ärmlichen Gemachs auf seinem Lager hatte ächzen sehen.
Er stieß mit der Stirn gegen den Boden und stöhnte laut auf.
»Ja, es ist wahr, es gibt welche, die noch mehr gelitten haben als ich, aber das waren wenigstens Märtyrer.«
»Bereuen Sie?« fragte eine düstere und feierliche Stimme, bei deren Klang dem Gefangenen sich das Haar auf dem Kopf sträubte.
Sein geschwächter Blick versuchte die Gegenstände zu unterscheiden, und er sah hinter dem Banditen einen Mann im Mantel, der im Schatten eines Pfeilers stand.
»Was soll ich bereuen?« stammelte Danglars.
»Das Böse, das Sie getan haben«, sagte dieselbe Stimme.
»O ja, ich bereue! Ich bereue!« rief Danglars.
Und er schlug mit der abgemagerten Faust an seine Brust.
»Dann vergebe ich Ihnen«, sagte der Mann, indem er seinen Mantel abwarf und einen Schritt vor ins Licht trat.
»Der Graf von Monte Christo!« rief Danglars, bleicher vor Schrek-ken, als er einen Augenblick vorher vor Hunger und Elend gewesen war.
»Sie irren sich; ich bin nicht der Graf von Monte Christo.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ich bin der, den Sie verkauft, ausgeliefert, entehrt haben; ich bin der, dessen Braut Sie zur Dirne gemacht haben; ich bin der, den Sie mit Füßen getreten haben, um reich zu werden; ich bin der, dessen Vater Sie haben Hungers sterben lassen; derjenige, der Sie zum Hungertod verdammt hatte und der Ihnen dennoch vergibt, weil er selbst der Vergebung bedarf: ich bin Edmund Dantès!«
Danglars stieß einen Schrei aus und fi el zu Boden.
»Stehen Sie auf«, sagte der Graf, »das Leben ist Ihnen geschenkt; solches Glück ist Ihren beiden Spießgesellen nicht widerfahren; der eine ist wahnsinnig, der andere tot. Behalten Sie die fünfzigtausend Franken, die Ihnen noch geblieben sind, ich schenke sie Ihnen; Ihre fünf Millionen, die Sie den Hospitälern gestohlen haben, sind bereits durch eine unbekannte Hand den Anstalten zurückgegeben worden.
Und jetzt essen Sie und trinken Sie; heute abend sind Sie mein Gast.
Vampa, wenn dieser Mann sich satt gegessen hat, ist er frei.«
Danglars blieb auf dem Boden liegen, während der Graf sich entfernte; als er den Kopf hob, sah er nur noch einen Schatten, der im Gang verschwand und vor dem sich die Banditen verneigten.
Wie der Graf befohlen hatte, ließ Vampa ihm den besten Wein und die schönsten Früchte Italiens bringen; dann ließ er ihn in seine Postkutsche steigen und brachte ihn auf die Straße, wo er ihn unter einem Baum absetzte und verließ.
Danglars blieb, ohne zu wissen, wo er war, bis Tagesanbruch an derselben Stelle.
Als es hell wurde, bemerkte er, daß er sich an einem Bach befand; er hatte Durst und schleppte sich bis zum Wasser. Als er sich bückte, um zu trinken, sah er, daß seine Haare weiß geworden waren.
D O
Es war gegen sechs Uhr abends; ein opalfarbenes Licht, mit goldenen Strahlen untermischt, fi el vom Himmel auf das bläuliche Meer.
Die Wärme des Tages hatte sich allmählich gemildert, und man begann jene leichte Brise zu spüren, die wie das Aufatmen der Natur nach der heißen Ruhe des Mittags ist, jenen köstlichen Hauch, der die Küsten des Mittelländischen Meeres erfrischt und den Duft der Bäume, vermischt mit dem scharfen Geruch des Meeres, von Ufer zu Ufer trägt.
Auf diesem ungeheuren See, der sich von Gibraltar bis zu den Dardanellen und von Tunis bis Venedig erstreckt, glitt eine leichte Jacht von eleganter Form in den ersten Dünsten des Abends dahin.
Die Jacht kam rasch vorwärts, obgleich dem Anschein nach kaum Wind genug vorhanden war, um die Locken eines Mädchens fl attern zu machen.
Aufrecht stehend auf dem Vorderteil des Schiff es, sah ein Mann von hoher Gestalt mit bronzener Gesichtsfarbe und weitgeöff neten Augen das Land in Form einer düsteren kegelförmigen Masse, die sich aus den Fluten erhob, auf sich zukommen.
»Ist das Monte Christo?« fragte mit ernster Stimme von tieftrauri-gem Klang der Reisende, dessen Befehlen die kleine Jacht zur Zeit zu gehorchen schien.
»Ja, Exzellenz«, antwortete der Kapitän, »wir landen.«
»Wir landen!« murmelte der Reisende mit einem unbeschreiblichen Ton von Schwermut.
Und er verfi el wieder in seine Gedanken, die sich durch ein Lächeln verrieten, das trauriger war, als Tränen gewesen wären.
Zehn Minuten später zog man die Segel ein und warf fünfhundert Schritt von einem kleinen Hafen entfernt Anker.
Das Boot war schon mit vier Ruderern und dem Steuermann im
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