Der Graf von Monte Christo 2
Dasein ist dann un-nütz geworden, und so wahr ich der Sohn des ehrlichsten Mannes bin, der je in Frankreich gelebt hat, jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.«
Ein krampfhaftes Zittern ging durch Valentines Körper; sie ließ das Gitter los, das sie mit beiden Händen umfaßt hatte; ihre Arme sanken an ihrem Körper herunter, und zwei schwere Tränen rollten ihr über die Wangen. Der junge Mann blieb düster und entschlossen vor ihr stehen.
»Oh, um Gottes willen«, sagte sie, »Sie tun sich kein Leid an, nicht wahr?«
»Ich tue, wie ich Ihnen gesagt habe, bei meiner Ehre. Aber was macht Ihnen das aus? Sie haben Ihre Pfl icht getan, und Ihr Gewissen ist ruhig.«
Valentine sank in die Knie.
»Maximilian«, sagte sie, »mein Freund, mein Bruder auf Erden, mein wirklicher Gatte im Himmel, ich beschwöre dich, mach es wie ich, lebe mit dem Leiden: Eines Tages werden wir vielleicht wieder vereint sein.«
»Leb wohl, Valentine!« wiederholte Morrel.
»Mein Gott!« sagte Valentine, indem sie die Hände zum Himmel hob. »Du siehst, ich habe alles getan, um eine gehorsame Tochter zu bleiben: Ich habe gebeten und beschworen; er hat weder auf meine Bitten noch auf meine Tränen gehört. Nun wohl«, fuhr sie fort, indem sie die Tränen trocknete; »ich will nicht vor Gewissensbissen sterben, lieber vor Schande. Du wirst leben, Maximilian, und ich werde niemandem gehören als dir. Sprich, befi ehl, in welcher Stunde, in welchem Augenblick; ich bin bereit.«
Morrel, der sich bereits wieder einige Schritte entfernt hatte, kam von neuem zurück und streckte, bleich vor Freude, Valentine durch das Gitter beide Hände entgegen.
»Valentine«, sagte er, »so mußt du nicht mit mir sprechen, lieber mich sterben lassen. Warum sollte ich dich denn der Gewalt ver-danken, wenn du mich liebst, wie ich dich liebe? Willst du mich aus Mitleid zum Leben zwingen? Lieber will ich sterben.«
»In der Tat«, sagte Valentine, »wer liebt mich denn auf der Welt? Er.
Wer hat mich in all meinem Kummer getröstet? Er. Auf wem ruht meine Hoff nung? Auf ihm. Nun wohl, du hast recht, Maximilian, ich werde dir folgen, werde mein Vaterhaus, alles verlassen. O
Undankbare, die ich bin!« rief sie schluchzend, »selbst meinen guten Großvater, den ich vergaß!«
»Nein«, antwortete Maximilian, »du wirst ihn nicht verlassen. Du hast mir gesagt, daß er mich gern hat; nun gut, ehe du fl iehst, sagst du ihm alles, du machst dir aus seiner Zustimmung einen Schild vor Gott, und sobald wir verheiratet sind, kommt er zu uns und hat dann statt eines Kindes zwei. Oh, glaube mir, nicht Verzweifl ung wartet unser, sondern Glück!«
»O sieh, Maximilian, welche Macht du über mich hast! Du machst mich fast an das, was du sagst, glauben, und doch ist es Wahnsinn, denn mein Vater wird mir fl uchen; ich kenne seine Unbeugsamkeit, er wird mir nie verzeihen. Höre, Maximilian: Wenn ich durch List, durch Bitten, durch irgend etwas die Heirat verzögern kann, wirst du warten, nicht wahr?«
»Ja, ich schwöre es, wie du mir schwörst, daß diese abscheuliche Heirat nie stattfi nden soll. Und wenn man dich vor den Altar schleppt, wirst du nein sagen?«
»Ich schwöre es, Maximilian, bei dem Heiligsten, was ich auf der Welt habe, dem Andenken meiner Mutter.«
»Dann wollen wir warten«, sagte Morrel.
»Ja, laß uns warten«, antwortete Valentine, die bei diesen Worten aufatmete; »es kann so mancherlei dazwischenkommen, das uns retten wird.«
»Ich verlasse mich auf dich, Valentine«, sagte Morrel, »alles was du tust, ist gut getan; aber wenn trotz deiner Bitten dein Vater und Frau von Saint-Méran fordern, daß der Vertrag morgen unterschrieben werde …«
»Dann hast du mein Wort, Maximilian, dann komme ich zu dir, und wir fl iehen. Aber bis dahin wollen wir uns nicht mehr treff en; es ist ein Wunder, eine Fügung der Vorsehung, daß wir noch nicht überrascht worden sind; würden wir überrascht, erführe man, wie wir uns sehen, so hätten wir keinen Ausweg mehr.«
»Du hast recht, Valentine; aber wie soll ich denn erfahren …«
»Durch den Notar, Herrn Deschamps.«
»Den kenne ich.«
»Und durch mich. Ich schreibe dir.«
»Ich danke dir, meine angebetete Valentine«, entgegnete Morrel.
»Dann ist alles abgemacht; sobald ich die Zeit weiß, komme ich; du übersteigst diese Mauer, und ich bringe dich zu meiner Schwester.
Wir werden da unbekannt leben oder off en auftreten, wie du es wünschen wirst. Wir haben das Bewußtsein unsrer Kraft und unsres
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