Der Graf von Monte Christo 2
Sie wirklich das, was Sie mir da sagen?«
Morrel wußte nicht, ob er wache oder träume.
»Hören Sie«, antwortete der Doktor, »ich kenne die Bedeutung meiner Erklärung und die Eigenschaft des Mannes, dem gegenüber ich sie mache.«
»Sprechen Sie zu dem Beamten oder dem Freund?« fragte Villefort.
»Zu dem Freund, zu dem Freund allein in diesem Augenblick: Die Symptome des Starrkrampfs und die der Vergiftung durch Pfl anzenstoff e gleichen sich dermaßen, daß ich Ihnen erkläre, ich würde zögern, wenn ich das, was ich da sage, unterschreiben müß-
te. Ich wiederhole Ihnen deshalb, ich wende mich nicht an den Beamten, sondern an den Freund. Nun denn, dem Freund sage ich: Ich habe den dreiviertelstündigen Todeskampf, die Zuckungen, den Tod der Frau von Saint-Méran beobachtet, und ich bin nicht nur überzeugt, daß sie an einer Vergiftung gestorben ist, sondern ich werde Ihnen auch sagen, an welchem Gift.«
»Herr Doktor! Herr Doktor!«
»Frau von Saint-Méran ist an einer starken Dosis Bruzin oder Strychnin gestorben, die man ihr jedenfalls zufällig, vielleicht aus Versehen, eingegeben hat.«
Villefort ergriff die Hand des Doktors. »Oh, das ist unmöglich!«
sagte er. »Ich träume, mein Gott, ich träume! Es ist schrecklich, so etwas aus dem Mund eines Mannes wie Sie zu hören. Um Gottes willen, ich beschwöre Sie, lieber Doktor, sagen Sie, daß Sie sich täuschen.«
»Ich kann es allenfalls, aber …«
»Aber?«
»Ich glaube es nicht.«
»Haben Sie Mitleid mit mir; seit einigen Tagen widerfährt mir so viel Unerhörtes, daß ich glaube, wahnsinnig zu werden.«
»Hat außer mir jemand Frau von Saint-Méran besucht?«
»Niemand.«
»Ist aus der Apotheke etwas geholt worden, wovon mir nichts gesagt wurde.«
»Nein, nichts.«
»Hatte Frau von Saint-Méran Feinde?«
»Ich kenne keine.«
»Hatte jemand Interesse an ihrem Tod?«
»Nein, mein Gott! Nein; meine Tochter ist ihre einzige Erbin …
Oh, wenn mir ein solcher Gedanke kommen könnte, würde ich mir zur Strafe ein Messer ins Herz stoßen.«
»Oh, mein lieber Freund«, rief Herr d’Avrigny, »Gott behüte mich davor, daß ich jemand anklage, ich spreche nur von einem unglücklichen Zufall, einem Versehen. Aber die Tatsache ist da und spricht leise zu meinem Gewissen, und ich will, daß mein Gewissen laut zu Ihnen spreche. Stellen Sie eine Untersuchung an.«
»Worüber?«
»Lassen Sie sehen: Sollte sich Barrois, der alte Diener, nicht geirrt und Frau von Saint-Méran irgendeinen für seinen Herrn bestimmten Trunk gegeben haben?«
»Für meinen Vater?«
»Ja.«
»Aber wie kann ein für meinen Vater bestimmter Trank Frau von Saint-Méran vergiften?«
»Nichts einfacher: Sie wissen, daß bei gewissen Krankheiten die Gifte Heilmittel werden; Lähmung gehört zu diesen Krankheiten.
Nachdem ich alles angewandt hatte, um Herrn Noirtier die Bewegung wiederzugeben, habe ich mich seit etwa drei Monaten entschlossen, ein letztes Mittel zu versuchen, und behandelte ihn mit Bruzin. In der letzten Medizin, die ich ihm verschrieben hatte, waren sechs Zentigramm davon; sechs Zentigramm, die auf die gelähmten Glieder des Herrn Noirtier ohne Wirkung gewesen sind und an die er sich übrigens durch langsam größer werdende Dosen gewöhnt hat, genügen, um jeden andern zu töten.«
»Mein lieber Doktor, die Wohnung meines Vaters steht mit der meiner Schwiegermutter in keiner Verbindung, und Barrois ist nie zu ihr gekommen. Nein, Doktor, obgleich ich Sie als den geschicktesten und besonders den gewissenhaftesten Mann von der Welt kenne, so muß ich hier doch bemerken: Irren ist menschlich!«
»Hören Sie, Villefort«, sagte der Doktor, »gibt es einen Kollegen von mir, zu dem Sie ebensoviel Vertrauen haben wie zu mir?«
»Weshalb? Worauf wollen Sie hinaus?«
»Lassen Sie ihn holen, ich werde ihm sagen, was ich gesehen habe, und wir werden die Leichenschau vornehmen.«
»Und Spuren des Giftes fi nden?«
»Nein, des Giftes habe ich nicht gesagt, aber wir werden die Erschöpfung des Nervensystems konstatieren, die off enkundige Erstickung erkennen und Ihnen sagen: Lieber Villefort, ist die Sache durch Nachlässigkeit passiert, so wachen Sie über Ihre Dienstboten; liegt ein Werk des Hasses vor, so wachen Sie über Ihre Feinde.«
»O mein Gott, was schlagen Sie mir da vor!« antwortete Villefort niedergeschmettert. »Sobald außer Ihnen jemand um das Geheimnis weiß, wird eine Untersuchung notwendig, und eine Untersuchung bei mir ist
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