Der Graf von Sainte-Hermine - Dumas, A: Graf von Sainte-Hermine - Le Chevalier de Sainte-Hermine
René«, flüsterte Jane, die ihren Kopf auf die Schulter des jungen Mannes sinken ließ, »diese Philosophie ist zu schwer für meinen schwachen Verstand; ich glaube lieber, das ist einfacher und weniger hoffnungslos.«
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Die Hochzeitsvorbereitungen
René hatte viel gelitten, und dies bedingte seinen Lebensüberdruss und seine Todesverachtung. Mit zweiundzwanzig Jahren, in einem Alter, in dem sich das Leben dem Menschen eröffnet wie ein Blumengarten, hatte dieses Leben sich ihm verschlossen: Er hatte sich mit einem Mal in einem Kerker wiedergefunden, wo vier Gefangene den Freitod gewählt und den die übrigen Insassen fast vollzählig gegen das Schafott eingetauscht hatten. In seiner Sicht der Dinge war Gott ungerecht, denn Gott bestrafte ihn dafür, dass er Beispiel und Gebot seiner Familie befolgt hatte, das in der Aufopferung für das Königtum bestand; er hatte viel lesen und viel nachdenken müssen, um zu begreifen, dass Hingabe und Aufopferung außerhalb der Gesetze bisweilen Verbrechen sein können und dass nur die Aufopferung, die dem Vaterland gilt, Gott ein Wohlgefallen ist; als Nächstes war er sich darüber klar geworden, dass Gott – worunter er den Schöpfer der Abertausende von Welten verstand, die sich im Weltraum bewegen – keineswegs ein individueller Gott ist, der die Geburt jedes einzelnen Menschen in seinen Büchern verzeichnet und zugleich das Geschick dieses Menschen entscheidet.
Und falls er sich täuschen sollte, falls entgegen jeder Wahrscheinlichkeit dieser Gott doch so wäre und folglich ungerecht und blind, wenn das Leben der Menschengeschöpfe keineswegs eine Abfolge materieller Zufälle wäre, den Launen des Schicksals ausgeliefert, dann würde er eben gegen diesen Gott, über den sich zu beklagen niemand das Recht hat, kämpfen und Gott zum Trotz ein ehrbarer Mensch sein.
Die Prüfung hatte lange gewährt, und er war aus ihr hervorgegangen, wie der Stahl aus der Härtung hervorgeht: unzerbrechlich und geläutert; sein Kinderglaube war Stück für Stück von ihm abgefallen wie die schlecht verbundenen Teile einer Rüstung während eines Kampfes, doch wie Achill benötigte er nun keine Rüstung mehr. Das widrige Geschick, diese unnachsichtige Mutter, hatte ihn in den Styx getaucht; er verabscheute das Böse aus Kenntnis des Bösen und benötigte, um Gutes zu tun, keine Hoffnung auf Vergeltung; da er nicht an Gottes unmittelbaren Schutz für den Menschen in Gefahren, denen der Mensch sich aussetzt, glaubte, hatte er die Verteidigung seines Lebens seiner Kraft anvertraut, seiner Geschicklichkeit und seiner Kaltblütigkeit. Er hatte die äußerlichen Eigenschaften, die man von der Natur erhält, von der moralischen und körperlichen Ertüchtigung gesondert, für die man selbst verantwortlich ist. Sobald dieses Denken in seinem Geist verankert war, hatte er aufgehört, Gott für die kleinen Geschehnisse seines Lebens zur Rechenschaft zu ziehen; er tat nichts Böses, weil er das Böse verabscheute, und er tat Gutes, weil dies zu den Pflichten gehört, die dem Menschen von der Gesellschaft auferlegt sind.
Von einem solchen Mann konnte Jane mit Fug und Recht sagen: »Ich verlasse mich nicht auf mich, sondern auf ihn.« Und um die wenige Zeit zu nutzen, die René noch in ihrer Gesellschaft weilen würde, verließ Jane ihn tagsüber so selten wie möglich; sie unternahmen lange gemeinsame Ausritte in die Umgebung der Siedlung, von denen sie erst zurückkamen, wenn der Gong sie zurückrief oder die Hitze sie dazu nötigte. Nachmittags ritten sie wieder aus und wagten sich bisweilen weiter weg, als ratsam war, doch wenn Renés Gewehr an seinem Sattelbogen hing und seine Pistolen im Halfter steckten, fürchtete Jane sich vor nichts.
Zudem wirkte sie seit einiger Zeit völlig furchtlos und schien die Gefahr sogar eher zu suchen als zu scheuen.
Jeden Abend saßen die zwei jungen Leute auf der Veranda des Salons; dort unterhielten sie sich stundenlang über philosophische Themen, die Jane einen Monat zuvor nicht verstanden und folglich auch nicht debattiert
hätte. Vor allem sie kam immer wieder auf das große Geheimnis des Todes zu sprechen, das Hamlet ausgelotet, aber nicht erhellt hat; ihre Gedanken waren inzwischen von staunenswerter Klarheit, Sicherheit und Entschiedenheit; ihr Geist, der sich nie zuvor mit vergleichbaren Fragen beschäftigt hatte, erfasste sie mit einer Unmittelbarkeit, die Jane erlaubte, Renés Gedanken zumindest zu begreifen, wenn auch nicht unbedingt zu
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