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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Bei diesem Wort zuckten die um ihn herumstehenden Leute zusammen. »Edika ist
    hier passiert. «
    »Wer oder was ist Edika?« fragte ich, während einer der Handlosen die Zügel der Pferde nahm und einige andere
    anfingen, das Holz abzuladen.
    »Edika ist eine immer wiederkehrende Verheerung«,
    seufzte der Mann. »Er ist der König der Skirer, ein
    schreckliches Volk.«
    Vielleicht hatte der Verlust seiner Hände und die daraus resultierende Unfähigkeit zur manuellen Arbeit, wie sie andere Bauern verrichteten, ihn nachdenklicher und
    wortgewandter werden lassen als die einfältigen Bauern, die ich in der letzten Zeit getroffen hatte. Jedenfalls fuhr er mit lobenswerter Beredtheit und leidenschaftlichem Zorn fort, mir Dinge zu berichten, die ich zum Teil schon wußte, die mir zum Teil aber auch neu waren.
    Die Provinz Pannonia, führte er aus, war der Punkt in
    Europa, an dem die verschiedenen Einfluß-
    und
    Interessengebiete des östlichen und westlichen Imperiums kollidierten. Der Imperator Anthemius in Rom, oder, genauer gesagt, der »Königsmacher« Riccimer, die wahre Macht im Hintergrund, und der Imperator Leo in Konstantinopel stritten und intrigierten ohne Unterlaß, um die imaginäre
    Trennungslinie hierhin oder dorthin zu verschieben und ihre jeweilige Einflußsphäre auszuweiten. Die Garnisonsstadt Vindobona an der Donau - der Grenze des gesamten
    Römischen Reiches - war schon lange fest in römischer
    Hand. Aber die südlichen Ausläufer Pannoniens, mit
    ansehnlichen Städten wie Siscia und Sirmium - und weniger bedeutenden Siedlungen wie dieser hier wurden immer
    wieder von den Truppen der einen oder der anderen Hälfte des Reichs überrannt und mußten einmal Rom, dann wieder Konstantinopel die Treue schwören.
    Natürlich waren weder Riccimer noch Leo so unverfroren und befahlen den Legionen in der einen Hälfte des
    Imperiums, die Bruderlegionen der anderen Hälfte zu
    bekriegen. Also bedienten sie sich Alliierter oder heuerten Söldner an, die sie unter das Kommando von angeblich
    abtrünnigen römischen Offizieren stellten. Zu den
    Hilfstruppen gehörten die Männer des Königs von Sciri, Edika, und aus Asien herbeigeschaffte Truppen, wie etwa die Sarmater unter König Babai. Das erklärte die bunte Zusammensetzung der Kolonne, der ich vor kurzem
    ausgewichen war. Der Imperator Leo verließ sich nach
    Auskunft des Holzsammlers auf seine langjährigen
    Verbündeten, die Ostgoten unter ihrem König Theudemir.
    »Aber«, wollte ich wissen, »was für eine Ungeheuerlichkeit hat sich hier zugetragen?«
    »Vor etwa dreißig Monaten«, antwortete der Alte, »haben sich die Kampflinien in dieser Gegend hinund
    herverschoben. Damals nahmen wir an, daß wir sicher auf der östlichen Seite der Linie standen. Und so gaben wir in unserer Unwissenheit einem Trupp von Theudemirs
    Ostgoten von unseren Vorräten. Das war ein Fehler, denn bald schon griffen Edikas Skirer an und drängten die
    Ostgoten weit nach Osten ab. Wir wurden beschuldigt, dem Feind geholfen zu haben, und Edika selbst verfügte, daß uns allen zur Strafe die Hände abgeschlagen werden sollten. Die Kinder mit Händen, die du siehst, sind seitdem geboren worden. Wir warten begierig darauf, sie aufwachsen zu
    sehen, und hoffen inständig, daß Edika nicht vorher
    zurückkehren wird. Und nun, Fremdling, können wir dir
    etwas für deine Hilfe anbieten? Eine Mahlzeit? Ein Lager für die Nacht?«
    Kopfschüttelnd lehnte ich das Angebot ab. Ich glaube, es war meine weibliche Seite, die mich dazu bewog. Welche Anstrengung mußte es den Frauen dieses Dorfes bereiten, die Mahlzeiten zu bereiten, die sie sowieso zu bereiten hatten. Beim Anblick all dieser verstümmelten, armseligen Menschen überkam mich ein starkes Gefühl der Hilflosigkeit und des Mitleids, das es mir unmöglich machte, eine Nacht bei ihnen zu bleiben. So ließ ich mir nur zeigen, in welcher Richtung die Stadt Vindobona lag und wie weit es bis dort noch war.
    »Ich war niemals dort«, sagte der Mann, »aber ich weiß, daß etwas weiter östlich eine gute Römerstraße verläuft. Die wird dich nach Norden zur Donau und weiter nach
    Vindobona führen. Zur Straße sind es wohl fünfundzwanzig römische Meilen, und dann nochmals so weit bis
    Vindobona.«
    Bis zur Straße gerade ein Tag, von Sonnenauf- bis
    Sonnenuntergang, wenn man stetig ritt. Oder zwei, wenn man sich Zeit ließ. Und dann nochmals zwei bis zur Stadt.
    »Aber halte deine Augen und Ohren offen«, warnte mich
    der Alte.

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