Der Greif
nicht erschien, wuchsen Strabos Besorgnis und Verstimmung, und er herrschte mich oft an:
»Falls Euer nichtsnutziger Bruder erwartet, mir durch
absichtliche Verzögerung seiner Antwort irgendeinen
Kompromiß abzuschmeicheln, hat er sich gewaltig
getäuscht!«
Ich reagierte auf diese Bemerkungen nur mit einem
Achselzucken, als wolle ich sagen, daß ich mit der
Angelegenheit nichts zu tun habe, sie mich nicht interessiere und ich nichts daran ändern könne, selbst wenn ich wollte.
Ein anderes Mal drohte Strabo:
»Vielleicht würde es die schwächliche Unentschlossenheit Eures Bruders beflügeln, wenn ich anfangen würde, ihm
Eure Finger zukommen zu lassen, einen in der Woche.«
Ich gähnte und sagte: »Schickt ihm Camillas Finger.
Theoderich würde kaum Verdacht schöpfen, und sie würde sie kaum vermissen. Sie gebraucht sie selten genug hier.«
»Iesus Xristus«, sagte Strabo voller Hochachtung. »Ihr mögt ja nur vortäuschen, eine Prinzessin zu sein, doch seid Ihr ganz sicher eine Ostgotin. Eine Raubritterin! So
unbarmherzig wie eine Vertreterin der Unterwelt! Und wenn Ihr mir einen Sohn schenkt, welch ein starker, kräftiger und stahlharter Sohn wird das sein!«
Ein anderes Mal sprach er von etwas anderem, das
offensichtlich kein Geheimnis war, für mich jedoch eine unglaubliche Neuigkeit darstellte. Er hatte sich damit gebrüstet, wie sehr Kaiser Zeno ihn schätzte, unterstützte und von ihm abhängig war, als ich einen kühnen Vorstoß wagte:
»Aber angenommen, mein Bruder hat sich an den Kaiser
von Rom um Hilfe gewandt. Wärt dann nicht Ihr und Theoderich einander ebenbürtig und entstünde somit nicht eine Pattsituation?«
Strabo rülpste gewaltig und knurrte: »Väi! Es gibt keinen Kaiser in Rom.«
»Nun, ich meine natürlich Ravenna. Und ich weiß, daß er nur ein Junge ist und verächtlich ›Kleiner Augustus‹ genannt wird...«
»Ne, Tie. Audawakrs entthronte diesen Jungen Romulus
Augustulus, schickte ihn ins Exil und ließ seinen Vater, den Regenten, enthaupten. Zum ersten Mal seit mehr als
fünfhundert Jahren trägt kein Römer den hochtrabenden
Titel eines Kaisers. Wahrhaftig, das ganze Römische Reich des Westens existiert nicht mehr. Sein Name wurde von den Landkarten der Welt entfernt.«
»Was?«
»Wo wart Ihr bloß, Mädchen, daß Ihr das nicht erfahren habt?« Strabo legte den Kopf schief, um mich mit einem seiner Augen ungläubig anzustarren. »Ach, ja, ich vergaß.
Ihr wart lange Zeit auf der Straße unterwegs. Ihr müßt Konstantinopel verlassen haben, kurz bevor die Nachricht hier eintraf.«
»Welche Nachricht? Wer ist Audawakrs?«
»Ein Ausländer, wie ich und Ihr. Er ist der Sohn des
verstorbenen Königs Edika der Skiren.«
»Von Edika habe ich gehört«, sagte ich, in Erinnerung an das kleine Dorf, das von Menschen ohne Hände bewohnt
war. »Theoderich - mein Vater erschlug König Edika
während einer Schlacht, kurz bevor er selbst starb. Doch was hat Edikas Sohn zu tun mit...?«
»Audawakrs schloß sich als Jugendlicher der römischen
Armee an und erreichte bald, Rang für Rang
emporklimmend, eine Position von höchster Bedeutung. Er eiferte Riccimer, diesem anderen Ausländer vor ihm, nach und ist seit kurzem der ›König-Macher‹ in Rom. Es war
Audawakrs, der den jungen Augustulus auf den Thron
setzte, und Audawakrs, der ihn wieder vom Thron stieß «
»Warum? Der König-Macher Riccimer war damals der
wirkliche Beherrscher des Westlichen Reiches und jeder wußte es, doch gab er sich stets damit zufrieden, im
Schatten des Throns zu stehen.«
Strabo zuckte die Schultern und rollte mit den Augäpfeln.
»Audawakrs ist nicht so. Er wartete nur auf einen Vorwand.
Die Ausländer in der Armee reichten eine Petition ein, bei Beendigung ihres Dienstes Landsitze zugesprochen zu
bekommen, die immer den in Italia Geborenen vorbehalten gewesen waren. Augustulus oder vielmehr sein Vater Orest lehnte dies mit Entschiedenheit ab. Deshalb vertrieb
Audawakrs den Jungen, ließ Orest hinrichten und
verkündete, daß er die Petition billige. Die ausländischen Truppen jubelten ihm begeistert zu und ließen ihn auf ihren Schilden hochleben. Deshalb regiert Audawakrs nun sowohl namentlich als auch tatsächlich.«
Strabo kicherte in sich hinein und genoß es sichtlich, von den verheerenden Zuständen in Rom zu erzählen. Er fügte noch hinzu: »Natürlich haben die Römer große
Schwierigkeiten, seinen Namen in der alten Sprache
auszusprechen. Sie haben daraus
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