Der Greif
gehört.«
Fillein nickte und fuhr fort: »Bevor die Ostgoten jedoch hierher gelangten, waren sie durch die Länder vieler anderer Völker gezogen. Auf seinem Weg hierher zwang
Ermanareichs all diese verschiedenen Völker, die Ostgoten als ihre Befehlshaber und Beschützer anzuerkennen.
Tatsächlich war Ermanareichs König viel zahlreicherer
Völker als nur seiner Ostgoten. Das ist auch der Grund, warum man ihn in einem Atemzug mit jenem legendären
Alexander dem Großen nannte. Unglücklicherweise wurden alle seine großen Eroberungen zunichte gemacht, als er seine erste und einzige Niederlage hinnehmen mußte. Die Hunnen aus dem fernen Osten fielen über ihn und sein Volk her, und Ermanareichs war inzwischen schon hundertzehn Jahre alt - zu alt, um eine wirkungsvolle Verteidigung aufzubauen. Nach dem Sieg der Hunnen nahm er sich das
Leben als Buße für sein eigenes Versagen. Seid vorsichtig hier, Saio Thorn. Tretet nur in meine Fußspuren. Auf beiden Seiten gibt es hier Treibsand mit bodenlosen Untiefen.«
Auf seine Bitte hin ging ich nun hinter ihm. Doch war ich während seines Berichts zunehmend skeptischer geworden und sagte jetzt: »Gudisks Himins, Mann, dieser König hätte so ungefähr zweihundertzehn Jahre leben müssen, um an
all diesen Ereignissen teilnehmen zu können, angefangen von der Ankunft der Goten hier bis zu ihrer Unterwerfung durch die Hunnen.«
Fillein sagte schmollend: »Wenn Ihr schon alles wißt, was zu wissen ist, warum fragtet Ihr mich dann nach dem
wenigen, das ich zu wissen glaubte?«
»Vergebt mir, werter Fillein. Offensichtlich sind viele verschiedene Geschichten im Umlauf. Ich möchte sie nur in Einklang miteinander bringen, aus ihnen die wahre
Geschichte herausfiltern.«
Er murrte: »Nun, es gibt eine Sache, die König
Ermanareichs betrifft, die unbestritten ist. Nach ihm waren nur noch Männer aus der amalischen Linie Könige der Ostgoten. Nicht notwendigerweise immer der Sohn jedes
Königs, doch der am besten geeignete Vertreter amalischer Abstammung. Um ein Beispiel zu geben, Ermanareichs
selbst hatte einen ältesten Sohn. Jener Prinz wurde
Hunimund der Schöne genannt, doch Ermanareichs
bestimmte einen weniger gutaussehenden, fähigeren Neffen zu seinem Nachfolger. «
»Diese Information ist sehr interessant, guter Fillein«, sagte ich aufrichtig, »und außerdem neu für mich.«
Später, auf dem Speicher, als Swanilda und ich nach
einem guten Essen satt und schläfrig nebeneinander lagen, erheiterte ich sie mit meinem Bericht, wie der erhabene Marschall des Königs den ganzen Tag über von einem alten Bauern herumkommandiert worden war und wie derselbe
Marschall des Königs zwischenzeitlich viele neue Dinge gelernt hatte.
4
Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, sagte der alte Mann: »Ich habe beschlossen, Saio Thorn, daß sich heute ein anderer mit Euch und Eurer Wißbegierde
herumplagen soll.«
»Kommt schon, werter Fillein«, sagte ich. »Ich habe noch ein paar Fragen zu den alten Zeiten, die ich Euch gerne stellen würde.«
»Nein, nein. Ich, meine alte Frau und Eure junge Frau
bessern heute meine Netze aus. Ich möchte das tun können, ohne dauernd abgelenkt zu werden. Ihr könnt losziehen und Eure Fragen meinem Nachbarn Galindo stellen.«
»Eurem Nachbarn?« wiederholte ich fragend, denn ich
hatte keine anderen Häuser in der näheren Umgebung
gesehen.
»Nirgendwo in diesem Delta gibt es Nachbarn, die
tatsächlich in der Nähe wohnen, doch könnt Ihr den Weg zu Galindos Wohnung und wieder zurück bis zum Einbruch der Nacht schaffen.«
»Galindo. Ist das nicht ein gepidischer Name?«.
»Ja. Da er Gepide ist, kann er Euch vielleicht mit einer völlig anderen Version von der Geschichte dieser Gegend unterhalten. Er ist sogar noch weiter in der Welt
herumgekommen als ich. In seiner Jugend diente Galindo in einer römischen Legion irgendwo in Gallien.«
»Ich bin sicher, werter Fillein, daß er kein so interessanter Gesprächspartner sein wird wie Ihr. Doch weiß ich Euren Rat zu schätzen. Wo finde ich denn diesen Galindo?«
Draußen war Made damit beschäftigt, die beiden Pferde
zu satteln. Er summte und pfiff dabei in kindlichem
Vergnügen vor sich hin. Ich erinnerte mich daran, wie
Meiros, der Schlamm-Mann, gesagt hatte: »Verwöhnt mir die Kreatur nicht zu sehr«, daher nahm ich an, daß dies
wahrscheinlich eine der wenigen Gelegenheiten in Mades Leben war, bei denen er nicht neben einem berittenen Herrn und Meister
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