Der Greif
genommen
hatte. »Ich habe schon einige Mütter kennengelernt, Frido«, fuhr ich fort, »aber ich selbst habe nie eine gehabt, daher kann ich mir vielleicht kein Urteil erlauben. Ich bin jedoch der Meinung, daß der Krieg eher die Sache der Väter und Söhne als die der Mütter ist.«
»Ihr findet also nicht, daß ich für den Krieg zu jung bin?«
»Vielleicht zu jung, um mitzukämpfen, aber alt genug, um zuzusehen. Du wirst irgendwann ein Mann sein, und jeder Mann sollte wissen, was Krieg bedeutet. Falls dieser Krieg der einzige in deinem ganzen Leben bleiben sollte, dann wäre es sehr schade, daß du ihn nicht miterlebt hast. Aber du bist ja erst neun Jahre alt. Irgendwann wird sich dir sicher noch einmal die Gelegenheit bieten, an einem Krieg
teilzunehmen. Welche männlichen Abenteuer gestattet man dir denn sonst?«
»Nun... ich darf mit den anderen Kindern des Palastes
spielen, solange sie meine Stellung respektieren und ihre Befugnisse nicht überschreiten. Ich darf ganz allein, also ohne Gefolge, auf meinem Pferd ausreiten, solange ich es nicht galoppieren lasse. Ich darf auch ganz allein den Strand entlangwandern und Muscheln sammeln, solange ich nicht ins Wasser gehe.« Er sah meinen Blick und fügte nur noch mit matter Stimme hinzu: »Ich habe eine recht beachtliche Muschelsammlung.«
»Sicher«, sagte ich.
Als wir eine Zeitlang schweigend nebeneinander
hergelaufen waren, fragte er: »Womit habt Ihr Euch denn in meinem Alter die Zeit vertrieben, Saio Thorn?«
»In deinem Alter... laß mich einmal nachdenken. Ich hatte weder ein Pferd noch einen Strand und mußte die meiste Zeit über hart arbeiten. Aber dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es nicht nur einen Wasserfall, sondern auch eine Höhle.
In dieser Höhle entdeckte ich dann noch weitere Höhlen und Gänge, die tief ins Innere der Erde führten. Nach und nach erforschte ich sie alle. Ich bin auch auf Bäume geklettert, sogar auf recht hohe Bäume, die sehr schwer zu erklimmen waren, und im Wipfel einer dieser Bäume entdeckte ich
eines Tages direkt vor mir einen Vielfraß, den ich dann erlegte.«
Frido schaute mir direkt ins Gesicht, und seine Augen
glänzten bewundernd, neidisch und wehmütig. »Was für ein Glück Ihr hattet daß Ihr ohne Mutter aufgewachsen seid.«
Da ich mir Königin Gisos Vertrauen bewahren wollte,
kehrte ich mit Frido noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Palast zurück. Von einigen Palastwachen umgeben wartete die Königin bereits trotz der Kälte vor dem Tor und war so unruhig wie eine Katzenmutter, deren Junges sich in
fremden Händen befindet. Sie war sichtlich erleichtert, als ich ihren Sohn unversehrt in sein Nest zurückbrachte. Und als ich sie fragte, ob Frido mich am nächsten Tag wieder begleiten dürfe, stimmte sie zu meiner Freude sogar etwas bereitwilliger zu als beim ersten Mal. Mit der gleichen Genugtuung stellte ich fest, daß die Königin offensichtlich nicht gelogen hatte, als sie mir erzählte, daß alle
kriegstauglichen rugischen Männer zusammen mit ihrem
königlichen Gemahl die Stadt verlassen hätten, denn ihre Palastwachen waren ebenso alt, fett und ungefährlich wie die beiden Hafenbeamten, denen ich zuvor begegnet war.
Der Prinz und die Königin begaben sich zum Abendessen, und ich ging zu meinem Gästequartier zurück. Dort wurde mir dann eine Mahlzeit serviert, die zwar wie am Tag zuvor einigermaßen abwechslungsreich zubereitet worden war,
jedoch erneut nur aus Fisch bestand. Diesmal war es
allerdings nicht Hering, sondern Kabeljau.
In den darauffolgenden Tagen machte ich mit Frido zu
Pferd Ausflüge in die weitere Umgebung. Meist ritten wir die Bernsteinküste entlang. Fridos Pferd war ein robuster, kastanienbrauner Wallach von etwas weniger edlem Geblüt als mein schwarzer Velox. Immer, wenn ich mir sicher war, daß uns niemand beobachtete, der seiner Mutter hätte
Meldung machen können, erlaubte ich dem Jungen, sein
Pferd zu einem langgestreckten Galopp anzutreiben. Und da der Junge auch in dieser Gangart recht sicher im Sattel saß, ermutigte ich ihn sogar regelrecht zum Galoppieren.
Nachdem ich Frido geholfen hatte, ein Fußseil an seinem Pferd anzubringen, und ihm auch gezeigt hatte, wie man es benutzt, ritt der Junge sogar noch besser. Wir brachen stets am Morgen auf und ritten dann am Strand entlang nach
Osten oder nach Westen, entfernten uns jedoch nie weiter als eine halbe Tagesreise von Pomore. Bereits um die
Mittagszeit machten wir jedesmal kehrt und ritten in
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