Der Greif
ausschicken und dich suchen lassen.«
Also ruderte ein Fährmann des Palastes mich und Velox
vom Hafen Boukoleon über den Propontis nach Chrysopolis, das heißt, ich setzte vom europäischen Kontinent zum
asiatischen Kontinent über. In aller Gemächlichkeit, müßig und ohne bestimmtes Ziel folgte ich dem Verlauf der Küste.
Wenn man beständig durch Städte und Dörfer kommt, die
durch gut ausgebaute Straßen verbunden und mit einer
komfortablen griechischen Herberge ausgestattet sind, fällt das Reisen leicht. Außerdem war das Wetter lind, und auf meinem Weg gen Süden bemerkte ich kaum, wie der Herbst zum Winter und der Winter zum Frühling wurde.
Zuerst kam ich durch das Gebiet südlich des Propontis, wo die
Mysier leben. Dieser Volksstamm war früher sehr
kriegerisch, doch über die Jahrhunderte hinweg wurden sie so oft überwältigt, unterworfen und unterdrückt, daß sie all ihre Kampfeslust verloren. Die Mysier sind tatsächlich so weit heruntergekommen, daß sie sich dazu hergeben, auf Beerdigungen gegen Bezahlung zu trauern. Ihre traurige Geschichte und ihr melancholisches Erbe versetzt sie in die Lage, um jeden Verstorbenen ausgiebig Tränen zu
vergießen. In einem Kahn begab ich mich vom Festland auf die Insel Kos, wo die feinsten Baumwolltücher der Welt gewoben werden und wo die seltene Purpurfarbe gewonnen wird. Die Frauen von Kos sind so stolz auf die Produkte ihrer Insel, daß sie sie täglich, auch zu den niedrigsten Arbeiten und auch auf der Straße tragen. Dazu muß eine Frau stolz auf ihren Körper sein, denn eine Stola oder Tunika aus dieser Baumwolle ist so skandalös durchsichtig, daß es fast anstößig wirkt. Ich kaufte etwas Purpur und einige Kleider aus Baumwolle für Veledas Garderobe, obwohl ich nicht
vorhatte, sie jemals öffentlich zu tragen und wie die Frauen aus Kos meinen Körper zur Schau zu stellen.
Von einem Vorgebirge etwas weiter südlich auf dem
Festland nahm ich ein Boot zur Insel Rhodos und sah mir an, was von dem berühmten Koloß übriggeblieben war.
Bevor die gigantische Bronzestatue des Apollo vor fast sieben Jahrhunderten durch ein Erdbeben zerstört wurde, hieß sie die Schiffe im Hafen von Rhodos willkommen und war - wie man sagt - so hoch wie zwanzig Männer
übereinander. Das ist sehr wohl möglich, denn allein der Daumen der Statue war so groß, daß ich ihn nicht mit beiden Armen umfangen konnte. Inmitten der Bruchstücke kann
man die Wendeltreppe sehen, die einst die Besucher zur Aussichtsplattform hinaufführte, wo sie durch die Augen des Apollo hinaus auf die Ägäis blicken konnten. Der Koloß muß vom Erdboden oder vom Meer aus noch mächtiger
ausgesehen haben, als er wirklich war. Vormals hatten die Bildhauer ihre Statuen lebensgroß gestaltet, das heißt die Gesamtgröße ist siebeneinhalbmal höher als der Kopf. Doch diese Statue wurde von Bildhauern geschaffen, die ihre Statuen acht, neun oder gar zehn Kopflängen hoch werden ließen und ihnen dadurch so viel Ausdruck verliehen, daß seither Standbilder von Göttern und auch Menschen immer in dieser Form nachgebildet wurden.
Es war nun schon lange her, daß ich den Purpur-Palast
verlassen hatte, doch ich hinterließ eine deutliche Spur. In jeder Herberge in der ich abstieg, gab ich meinen Titel und Namen an, und bis zu diesem Zeitpunkt war mir kein Bote Theoderichs gefolgt. Daher nahm ich an, daß er mich nicht brauchte, reiste weiterhin in aller Gemächlichkeit, auch als ich Velox wieder gen Konstantinopel lenkte, und hielt mich an jedem Ort auf, der mein Interesse erweckte.
Nach meiner Rückkehr in Konstantinopel, begab ich mich natürlich sofort zu Theoderich. Ich fand ihn in seinen Gemächern. Er hatte ein hübsches Chasar-Mädchen auf
dem Schoß und hatte eine mutwillig selbstzufriedene Miene aufgesetzt. Marschall Soas und die Generäle Pitzias und Herduich aber sahen recht betreten aus. Als ich den Raum betrat, nickten sie mir nur kurz zu, denn offensichtlich hatte ich sie in einer ernsten Unterhaltung unterbrochen.
»Das Opfer war nicht irgend jemand aus der Gosse«,
sagte Herduich gerade mißbilligend.
»Ihr habt des Kaisers Gastfreundschaft und Euer Amt als Konsul des Jahres mißbraucht«, meinte Pitzias.
»Zeno wird entsetzt sein. Empört. Außer sich«, knurrte Soas.
Doch Theoderich grüßte mich unbeschwert: »Hails, Saio
Thorn! Du kommst gerade rechtzeitig zu hören, wie sie mich verurteilen.«
»Wieso? Warum?«
»Ach, nichts. Ich habe mir nur erlaubt, heute
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