Der Greif
hätte weinen können, so mitleiderregend mager und
ausgezehrt und verzagt, ja unglücklich, sah er aus. Aber zumindest hatte er mich erkannt und befand sich im
Vollbesitz seiner Sinne.
»Laß uns von fröhlicheren Dingen reden«, fuhr ich fort.
»Vor einiger Zeit äußerte eine gute Freundin mir gegenüber die Ansicht, deine letzten Jahre wären angenehmer,
wahrscheinlich auch erfolgreicher verlaufen, wenn du nicht der liebenden Gesellschaft Audefledas beraubt worden
wärst - oder wenn wenigstens eine andere gute Frau ihren Platz eingenommen hätte. Und gibt nicht schon die Bibel gleich auf ihren ersten Seiten dem Mann eine Frau zur Hilfe an die Seite? Würde die sanfte, liebende Hand einer Frau die deine halten, wer weiß, vielleicht würdest du aufrechter und stärker dastehen. Zumindest aber würdest du bei ihr Liebe und Schutz finden vor den Stürmen und Gefahren der Welt.«
Theoderich hatte mich, während ich sprach, zuerst
überrascht, dann zweifelnd und schließlich nachdenklich betrachtet. Mir wurde schwer ums Herz. »Diese gute
Freundin, von der ich sprach, ist eine alte Frau namens Veleda. Eine Ostgotin, wie man am Namen erkennt, und
daher vertrauenswürdig. Ich selbst kann dir versichern, daß sie, wie ihre uralte Namensschwester - die sagenumwobene Wahrsagerin, die Enthüllerin der Geheimnisse - in der Tat eine sehr weise alte Frau ist.«
Alarmiert blickte Theoderich mich an.
»Ne, ne«, beeilte ich mich zu sagen, »Veleda bietet nicht sich selbst dir als Hilfe und Gefährtin an. Wo denkst du hin?
Sie ist ebenso alt und runzelig wie ich. Als sie mir diesen Vorschlag unterbreitete, zitierte sie aus der Bibel. Jene Stelle, wo über den greisen König David geschrieben steht:
›Da sprachen seine Großen zu ihm: Man suche unserm
Herrn, dem König, eine Jungfrau, die vor dem König stehe und ihn umsorge und in seinen Armen schlafe und unsern Herrn, den König, wärme. Und sie suchten ein schönes
Mädchen und fanden sie und brachten sie dem König und
sie war sehr schön.‹«
Theoderich sah so erheitert aus, wie ich ihn nur selten in den letzten Jahren erlebt hatte.
»Wie es sich fügt«, fuhr ich eilig, die Gunst der Stunde nutzend, fort, »besitzt meine Freundin eine junge Sklavin.
Eine wahrhaftige Rarität, ein Mädchen vom Volk der
Chinesen. Eine Jungfrau, unfaßbar schön und einzigartig in vieler Hinsicht. Im Namen unserer Freundschaft, die nun schon ein Leben lang währt: Erlaube mir, Veleda mit diesem vollkommenen Geschöpf zu dir zu schicken. Noch in dieser Nacht kann sie das Mädchen herbeibringen. Du mußt nur
Magister Cassiodor - ich weiß, wie streng er über deine Gemächer wacht - anweisen, die beiden ungehindert
eintreten zu lassen. Ich flehe dich an, mein Freund, erlaube mir diesen Freundschaftsdienst, denn er kommt von Herzen.
Ich bin sicher, du wirst mir und Veleda dafür dankbar sein.«
Theoderich nickte zustimmend, er lächelte sogar ein wenig und - mit ungespielter Liebe, mit Dankbarkeit für die Liebe, die ich ihm entgegenbrachte - sprach er den letzten Satz, den ich jemals von ihm hören sollte: »So sei es, mein alter Thorn. Schick mir Veleda, die Enthüllerin.«
Ich könnte das nicht als Thorn tun. Nicht, weil ich als Thorn von dem Eid gebunden werde, die Ehre meines
Königs hochzuhalten und zu verteidigen. Nein, mit dem, was ich tun werde, verteidige ich seine Ehre. Ich gehe als Veleda. Sie wird ihm das Mädchen stellvertretend für das geben, was ich, was Veleda so sehr gewünscht hätte, ihm in all diesen Jahren geben zu können.
Heute nacht werde ich die Venefica in den Palast führen und sie vor Theoderich enthüllen. Ich weiß, er wird sie nehmen. Und sei es nur seinem alten Freund Thorn zuliebe.
Dann werde ich diese zahllosen Seiten Papyrus, Pergament und Segeltuch nehmen und sie der Obhut Cassiodors
anvertrauen. Er soll sie in den Archiven des Königs für jene verwahren, die über die Zeit Theoderichs des Großen lesen möchten. Livia und ich haben noch einige Seiten im großen Buch des Lebens vor uns, doch diese Geschichte, die vor so langer Zeit ihren Anfang nahm, findet hier ihr Ende.
11 - Anmerkung des Übersetzers:
Die folgenden Zeilen wurden von einer anderen Hand
geschrieben.
Der Kaiser Justinian, erster Christ unter den Edlen
Konstantinopels, sagte, als er die Schließung der
platonischen Philosophieschulen in Athen verfügte, über diese heidnischen Pädagogen dieses: »So sie die
Unwahrheit sprechen, sind sie verderblich. So
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