Der Greif
und schaute über die Arena, über die letzten Ränge hinweg hinauf in den Morgenhimmel, so als ob er
einen fremdartigen grünen Vogel vorbeifliegen gesehen oder den unnatürlichen Ruf einer Eule bei Tag vernommen hätte.
Während der Kampf getobt hatte, hatte Gudinand nicht
das geringste Anzeichen seiner Krankheit gezeigt. Aber schon vor einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß er einen Anfall nicht so häufig in Augenblicken der körperlichen oder
geistigen Anstrengung erlitt, sondern wenn er sich sehr glücklich und gesund fühlte. Und so geschah es jetzt, da er kurz vor dem wichtigsten Moment seines Lebens stand,
einem Moment, der aus dem verachteten Aussätzigen
Constantias einen triumphierenden Helden gemacht hätte.
Der Stock fiel ihm aus den Händen, und ich sah auch
warum: seine Daumen hatten sich verkrampft, er konnte
seine Hände nicht mehr gebrauchen. Jaerius stand wankend da, vor Überraschung fast ebenso benommen wie sein
Gegner. Alle anderen Anwesenden waren wie vor den Kopf geschlagen, niemand sagte etwas. Dann stieß Gudinand
jenen Schrei aus, den ich ihn schon einmal zuvor hatte ausstoßen hören. Es war, als habe man ihm den Todesstoß versetzt. Das unheimliche Echo des Wehgeschreis
durchschnitt die atemlose Stille, die eingetreten war. Nur eine Stimme sprach, aber so leise, daß nur Jaerius sie verstehen konnte. Seine Mutter hatte sich weit über die Balustrade der Loge gelehnt und zischelte ihm etwas zu.
Als Gudinand der Stock aus der Hand fiel, war Jaerius
verwirrt stehen geblieben, aus der Nase und an der fast zerschmetterten rechten Hand blutend und offensichtlich unschlüssig, was er als nächstes tun sollte - bis Robeya es ihm sagte. Jetzt, Gudinand hatte seinen Kopf weit in den Nacken gelegt und gab immer noch diesen unmenschlichen Schrei von sich, schlug Jaerius mit all seiner Kraft zu. Sein Hieb traf Gudinand in der Kehle und schnitt seinen
herzzerreißenden Klageschrei ab, Gudinand fiel wie ein gefällter Baum zu Boden.
Vielleicht war dieser Hieb gar nicht tödlich gewesen;
vielleicht hätte er wieder aufstehen und weiterkämpfen können. Aber der Anfall hatte ihn in seinen Krallen. Steif und ausgestreckt lag Gudinand, nur seine Glieder zitterten, und Jaerius hieb erbarmungslos auf ihn ein. Gudinand hätte noch immer um Gnade flehen können - ein einzelner
erhobener Finger - und der Dux Latobrigex wäre verpflichtet gewesen, den Kampf einzustellen und das Verdikt der
Menge abzuwarten: Tod oder Leben. Aber der arme
Gudinand konnte seine verkrampften Hände nicht einmal so weit öffnen, um einen Finger zu erheben.
Jaerius hielt einen Moment inne und schaute in die
versammelte Menge. Aber der Dux hatte keine Zeit, die
traditionelle Geste - Daumen hoch, ein Signal für den Sieger, seine Waffe niederzulegen - zu vollführen, denn Robeya zeigte noch schneller die andere traditionelle Geste: Ein Stoß mit dem Daumen gegen ihre Brust. Zur Zeit der
Gladiatoren hieß das: »Töte ihn.« Und Jaerius gehorchte seiner Mutter. Die Menge röhrte »Clementia«, aber Jaerius hob seinen Stock senkrecht über Gudinand in die Höhe und rammte ihn drei oder vier Mal mit voller Wucht auf seinen Kopf.
Bei diesem Anblick brachte die Menge, die noch vor
kurzem so blutrünstig gewesen war, ihre Empörung in
lautem Gebrüll zum Ausdruck: »Skandal Atrocitas! Unhrains slauts! Saevitia!« -»Schande! Greuel! Gemeine Schlachterei!
Barbarei!« Es kam Bewegung in die Masse, ich sah sie
schon über die Sitze und Stufen in die Arena stürmen und Jaerius in Stücke reißen.
Aber Tiburnius, der Priester, sprang geistesgegenwärtig auf und streckte seine Arme Aufmerksamkeit erheischend in die Höhe. Als die Zuschauer ihn bemerkten, beruhigten sie sich langsam so weit, daß er sich Gehör verschaffen konnte.
Der Priester sprach abwechselnd in der alten Sprache und in Latein, so daß er sicher sein konnte, daß alle ihn
verstanden.
»Cives mei! Thiuda! Mein Volk! Zügelt euren gottlosen
Aufruhr und akzeptiert das Verdikt Gottes. Der HERR ist gerecht, und weise und rechtschaffen sein Urteil. Um jeden Zweifel in dieser Streitsache auszuräumen und allen die Wahrheit zu entdecken, befahl Gott, daß Gudinand
überwunden werden möge und Jaerius der Sieg zukomme.
Wagt nicht, die Weisheit des HERRN anzuzweifeln, so wie es ihm gefiel, sie euch heute zu enthüllen. Nolomus!
Interdicimus! Prohibemus! Gutha wairthai wilja theins, swe in himmina jäh ana airthai! Gottes Wille geschehe, wie im Himmel so
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