Der Greif
auf Erden!«
Niemand in der Menge wagte es, diesen priesterlichen
Befehl zu mißachten. Die Menge begann, wenn auch noch
murrend, sich zu zerstreuen und das Amphitheater zu
verlassen. Tiburnius, Latobrigex, Robeya und Jaerius
mußten eine geheime Tür benutzt haben, um die Loge zu
verlassen, denn plötzlich waren auch sie verschwunden.
Niemand außer mir und Wyrd blieb lange genug, um den
Sklaven der Arena - die passenderweise Charon genannt
wurden, nach dem Fährmann der Toten - zuzusehen, wie sie das Stück Fleisch entfernten, das einmal Gudinand gewesen war.
»Hua ist so sunja?« grollte Wyrd. »Was ist Wahrheit? Ich weiß nicht, wer die schleimigere Schlange ist: Jaerius, seine Mutter oder dieser aalglatte Priester.«
Auch ich konnte aus der Bibel zitieren: »Mis fraweit
letaidau; ik fragilda. Die Rache ist mein; ich will vergelten.«
»Ich bin es, der vergelten muß«, grummelte Wyrd, als wir uns erhoben. »Es wird dich nicht über den Verlust deines Freundes hinwegtrösten, aber du hast ein hübsches
Sümmchen gewonnen. Nur eines will ich anmerken. Du hast mir nie gesagt, daß Gudinand ein uslitha war, anfällig für die Fallsucht.«
»Ich habe dir angeboten, die Wette zu widerrufen«,
schnappte ich. »Und ich biete dir an, es immer noch zu tun.«
»Bei der bleichen, ausgemergelten Göttin Paupertas, ich bin noch nie im Leben jemandem etwas schuldig geblieben.
Und ich werde jetzt nicht damit anfangen, einen Freund zu betrügen.«
»Gut«, sagte ich, als wir auf die Straße traten. »Denn ich brauche das Geld. Und ich verspreche, im kommenden
Winter noch härter als im letzten Winter zu arbeiten, so daß wir wieder ein Vermögen zusammentragen werden.«
»Du brauchst das Geld?« fragte Wyrd überrascht. »Darf ich vielleicht erfahren, wofür?«
»Ne, Fräuja. Erst wenn ich es ausgegeben habe. Vielleicht würdest du mich von dem, wozu ich es verwenden möchte, abbringen wollen.«
Er zuckte die Achseln, und wir kehrten schweigend in
unser Quartier zurück. Unterwegs weinte ich, aber weder Wyrd noch sonst irgend jemand hätte es bemerken können, denn es flössen keine Tränen über meine Wangen. Den
Kummer, den ich als Thorn über den Verlust von
Gudinanddermein-Freundwar verspürte, ertrug ich männlich tränenlos. Es war meine weibliche Hälfte, die hemmungslos weinte, um Gudinanddermichgeliebthatte. Da aber mein
weibliches Sein gerade von meiner äußerlichen, männlichen Existenz unterdrückt wurde, flößen die Tränen, bildlich gesprochen, nur in meinem Herzen. Ich fragte mich: Wenn ich jetzt Juhiza und nicht Thorn wäre, würden dann meine Augen sichtbare Tränen vergiesen? Wieder einmal machte ich mir Gedanken über meine außergewöhnliche Natur und ihre oft unheilvollen Folgen für die Welt um mich herum. Lag es an meiner Unfähigkeit als Mannamawi zu lieben, oder war es einfach das mir zugedachte Schicksal, andere so leiden zu lassen? Die Römer glaubten - und die Heiden
glauben es immer noch - daß jedes menschliche Wesen von einem persönlichen gottähnlichen Wesen begleitet wird, unsichtbar, aber immer präsent. Die der Männer nennt man Genien, die der Frauen Juno. Glaubt man den Heiden, dann können die Menschen mit ihrem Willen nur wenig ausrichten, sondern sind den Launen ihrer Schutzgeister ausgeliefert.
Aber wer begleitete mich, das androgyne Wesen - ein
Genius und eine Juno? Lagen sie im beständigen Kampf um mich? Oder war mir kein einziger zugeteilt? Vieles von dem, was ich in meinem Leben getan hatte, hatte ich gewollt, aber bei anderen Dingen war ich mir nicht so sicher. Bruder Petrus hatte ich hinterlistig aus eigenem Antrieb erschlagen.
Aber vielleicht war auch Schwester Deidamia, ohne daß ich es gewollt hätte, an den Schlägen gestorben, die sie wegen ihrer Beziehung zu mir hatte ertragen müssen. Aus gutem Grund hatte ich die wilde Frau in dem Hunnenlager getötet.
Aber den Tod des Eunuchen Becga hatte ich nicht gewollt.
Jesus! Mein treuer Gefährte Juikabloth starb meinetwegen, weil ich wider seine Natur gehandelt hatte. Und jetzt, jetzt war ich unwillentlich zur unmittelbaren Ursache für
Gudinands Selbstopferung geworden.
Liufs Guth! Ganz gleich, ob es mein Werk, das eines
Genius, einer Juno oder von beiden war, war ich denn schon so früh in meinem Leben der mörderische Greif geworden, der zu werden ich einst gelobt hatte?
Wenn dem wirklich so war, dann wußte ich wenigstens,
wer mir als nächstes zum Opfer fallen würde.
»Khaire!« Der
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