Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
wie es Gerent war ...
Vielleicht war das wirklich so, denn auf einmal bemerkte Gerent, dass sein Gegenüber auf der anderen Seite der Mauer verschwunden war: hinaus in die strahlende feindselige Wüste, um zwischen dem roten Sand und den brennenden Winden zu ruhen ... Bitte schön, sollte er sich dort nur zu Hause fühlen, dachte Gerent, der sich nach einem eigenen Platz sehnte, an dem er Ruhe und Stille fand. Er lehnte sich mit den Händen an den gefrorenen Wall, senkte den Kopf, dehnte seine Wahrnehmung müde aufs Neue in diese lange, lange Spanne aus Gestein aus und ließ zu, dass sich die Welt um ihn faltete. Im nächsten Moment fand er sich zum dritten Mal auf dem Hof vor Aben Annachudrans Haus wieder, umhüllt vom Geruch geschnittenen Heus, dem Geruch von Pferden und Äpfeln. Von irgendwoher, nicht weit von ihm weg, wehte das Aroma warmen Brotes herbei, das frisch aus dem Ofen kam. Diese vertrauten anheimelnden Düfte, die alltägliche Geschäftigkeit von Männern und Frauen, die natürliche Wärme eines gewöhnlichen Herbstmorgens – das alles überwältigte ihn auf einmal nach der Wüste und den Greifen und dem Wall. Gerent knickten die Knie ein, und er setzte sich gleich dort nieder, wo er stand, direkt auf der Türschwelle zu Annachudrans Haus, und fand nicht einmal mehr die Kraft, um nach dem duftenden Brot zu suchen.
Dort entdeckte ihn Annachudran. Er sagte nicht viel, nur Gerents Namen. Er fasste unter Gerents Ellbogen, half ihm wortlos auf die Beine und führte ihn in ein mit Kiefer und Eiche getäfeltes Zimmer. Die Dame Emre, das Gesicht von Sorgen umwölkt, brachte ihm Brot, das förmlich von Butter und Honig tropfte. Gerent aß drei Bissen davon; dann hatte er genug körperliche und geistige Kraft, um zu fragen: »Und Tehre?«
Annachudran und seine Gattin wechselten einen Blick.
»Es geht ihr gut. Sie ist hier«, versicherte ihm die Dame Emre. »Sie wird froh sein zu hören, dass du ... dass du hier bist. Soll ich nach ihr schicken?«
Gerent schüttelte den Kopf. »Später.« Er legte das Brot auf den Teller zurück, lehnte den Kopf an die Kopfstütze des Sessels und war sofort eingeschlafen.
Früh am Morgen des nächsten Tages wachte er auf, nachdem er einen ganzen Tag und eine Nacht hindurch geschlafen hatte. Er wusste genau, wie viel Zeit vergangen war: ein tiefes Bewusstsein von Zeit und Ort schien sich als seltsamer und unerwarteter Ableger aus der Zauberkraft gebildet zu haben, erfreulicher als manch anderer. Und er erwachte ausgeruht und mit klarem Kopf, insgesamt eine schönere Erfahrung als sein letztes Erwachen in diesem Haus ... Aben Annachudran saß auf einem hochlehnigen Stuhl am Fenster und blickte zu seinen Obstgärten hinaus. Seine Miene war ruhig und nachdenklich, doch sie zeigte noch die Müdigkeit und Anspannung der zurückliegenden Tage. Er hatte die Ellbogen auf den Fenstersims gestützt und das Kinn auf eine Hand gelegt, in der anderen hielt er eine Schreibfeder und strich sich damit über Mund und Wange. Auf einem Tisch gleich neben ihm lag ein großes, in Leder gebundenes Buch, bei einer Karte des nördlichen Casmantium aufgeschlagen; an den Seitenrändern standen Anmerkungen in schwarzer und roter Tinte. Ebenfalls auf dem Tisch, von mehr unmittelbarem Interesse für Gerent, fand sich ein Teller mit Honigkuchen und ein Tablett mit Teezubehör.
Gerent räusperte sich. »Das ist eine Ausgabe von Berusent, nicht wahr? Du kleckerst doch keinen Honig auf die Seiten, wie ich hoffe?«
Annachudran drehte sich lächelnd um. »Gerent! Guten Morgen! Wir fürchteten allmählich schon, du würdest nie mehr von selbst wach werden ... Ich hätte beinahe schon damit begonnen, dich ›zurück ans diesseitige Gestade der Träume‹ zu holen, weißt du, aber Emre bestand eisern darauf, dass wir dich schlafen lassen, bis du von selbst erwachst. Wie fühlst du dich? Kannst du dich aufsetzen? Kannst du eine Tasse halten? Das ist eine gute Kanne; sie hält den Tee über Stunden heiß und frisch. Ich weiß nicht, wie du deinen Tee sonst trinkst, aber ich hielt es für das Beste, reichlich Honig hinzuzufügen.« Er stand auf, goss dampfenden Tee in eine Tasse und trug sie mitsamt dem Kuchenteller zum Nachttisch.
Gerent richtete den Oberkörper auf und stützte sich mit den Kissen ab. Er ertappte sich dabei zu lächeln. »Ich scheine immer wieder in deinem Haus wach zu werden ...«
»Nach erstaunlichen Leistungen, für die du den allerbesten Tee verdient hast.« Annachudran reichte ihm die
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