Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
sich durch die Ausdruckslosigkeit des Sklaven hindurch, die ihm Gerent zeigte – durchdrang dann die Überraschung und den Zorn und die Furcht darunter, stieß ins Gedächtnis vor und entblößte die geheimsten Gedanken, welche die einzige Privatsphäre darstellten, die ein Sklave sein Eigen nennen konnte.
Zunächst war Gerent zu erschrocken, um sich gegen diesen Eingriff zu wehren. Bilder stiegen in seinem Kopf auf – Erinnerungen, auf die er seit Jahren nicht zurückgegriffen hatte. Die Vergangenheit rauschte ihm wie eine Flutwelle durchs Bewusstsein: Erinnerungen, die er zu begraben gelernt hatte, als er zu einem Sklaven wurde, traten jetzt ins Blickfeld einer forschenden Neugier, die nicht seine eigene war. Das Gesicht seiner Mutter tauchte auf, dann das der Schwester; sein Vetter Geseikan, erst als lächelnder Knabe mit schmalem Gesicht und dann, einen kurz aufblitzenden Augenblick lang, als Mann mit verschlossener und feindseliger Miene.
Gerent erinnerte sich an die dünnen, knochigen Hände seines ersten Lehrers, der einen gewaltigen, in Leder gebundenen Gedichtband vor ihn legte ... Es war eines der Epen Teirenchodens gewesen; die Worte marschierten in einer schönen, kraftvollen Handschrift über das gute Pergament, die Seiten geschmückt mit Blattgold und zarten Farben aus der Hand des Illustrators. Gerent hatte den angestaubten Geruch des Buches geliebt, das Gefühl der schweren Seiten ... Geschichte und Poesie eröffneten sich ihm mit diesem Buch, obwohl er es damals noch nicht hatte lesen können. Und er hatte nicht geahnt, wie verzweifelt wichtig solche Bücher später im Leben sein würden, um bei Verstand zu bleiben. Sieben Jahre alt war er damals gewesen ... Er rührte sich, versuchte unbeholfen, den Blick vor dieser Erinnerung zu schließen, und kämpfte gegen den Verstoß, der sein Bewusstsein für diese fremde, messerscharfe Wahrnehmung öffnete.
Das tastende Bewusstsein des Magiers verlagerte sich, wich zurück, wendete und drang erneut in Gerents Innenleben vor. Gerent dachte daran zurück, wie er an einem Sommerabend durch den Regen lief, um den Schutz einer offenen Tür zu erreichen. Blitze zuckten; Donner rollte verlassene Straßen entlang; niemand außer ihm war närrisch genug, dem Gewitter zu trotzen. Er war noch jung und stark und unberührt von jeder Kenntnis, dass das Leben womöglich noch Gewitter barg, die schlimmer waren als jene, die aus einem dunklen Sommerhimmel herabkrachten. Ein Mädchen wartete unter der Tür auf ihn und lachte ihn aus, weil er durch den Regen rannte, um sie zu erreichen. Er griff nach ihren Händen, und ein Blitz flammte hinter ihm auf und tauchte die ganze Stadt in blendendes Licht. Gerents Blick begegnete den schönen Augen des Mädchens, und er lachte vor Freude.
Diese Erinnerung versuchte sich zu bewegen, sich zu wenden – versuchte zu einer anderen Erinnerung zu werden. » Nein!«, sagte Gerent, aber er wusste nicht, ob er das Wort laut gerufen oder nur in der Stille des eigenen Verstandes gesprochen hatte. Er kämpfte entschlossen und blind gegen das fremde Sondieren. Doch das Bewusstsein des Magiers war zu stark, um sich dagegen zu wehren. Es drang mit einer erbarmungslosen Fertigkeit in Gerents Gedanken ein, der er nichts entgegenzusetzen wusste; er vermochte die sondierende Neugier nicht aufzuhalten. Er fand jedoch einen Weg, um die eigenen Erinnerungen fließen zu lassen. Wenn der Magier nach ihnen griff, gestattete Gerent es ihnen, wie Wasser davonzusickern; es war unmöglich, sie zu ergreifen oder festzuhalten.
Dann hob der Magier die Hand, und Gerent fand sich schwindelerregend in das Studierzimmer zurückversetzt, wo er auf dem dicken blauen Läufer kniete. Der Magier mit dem schneeweißen Haar blickte mitfühlend auf ihn herab, äußerte aber keine Entschuldigung. Gerent atmete schwer, als ob er gerannt wäre oder gekämpft hätte. Ihm kam die Vermutung, dass er das auf eine gewisse Art und Weise tatsächlich getan hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, was er tun sollte. Er zitterte. Seine Miene war vermutlich viel zu leicht zu deuten. Er senkte den Blick, obwohl es eine harte Anstrengung war, die Augen von dem Magier abzuwenden, so wie es auch schwer gewesen wäre, sie von einer unberechenbaren, zusammengerollten Schlange oder einem kauernden Wolf abzuwenden.
Der Magier des Königs erklärte in völlig sachlichem Tonfall: »Zufällig brauche ich einen begabten Schaffenden – einen Schaffenden mit bestimmten Neigungen und
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