DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
schicken«, sagte Tan.
Das war als Trost gedacht. Es hätte auch besser gewirkt, wenn er sich nicht früher schon ganz ähnlich geäußert hätte. Das war kurz vor dem Verlust der beiden Wachsoldaten gewesen. Maianthe sagte jedoch nichts dazu. Sie nickte nur und fragte sich,ob sie, sobald sie den Wagenzug überholt hatten, die Fahrer der Maultiergespanne überreden oder bestechen konnten, noch langsamer zu werden und so jeden aufzuhalten, der Maianthe und Tan folgte.
Und es kam, wie erhofft: Sobald sie die breite Stelle am Talgrund erreicht hatten, lenkten die Maultierführer ihre Gespanne höflich auf die Seite, damit schnellere Reisende passieren konnten. Als Maianthe – sehr zögernd – den Fahrern ihre Bitte vortrug, schienen sie seltsam schnell bereit, ihr zu versichern, dass sie auf jeder Steigung wirklich sehr langsam sein würden und ganz gewiss nicht den Wunsch hatten, dass übereifrige Reisende die Mulis erschreckten, indem sie seitlich vorbeidrängten, wo eindeutig kein Platz war.
Maianthe dämmerte viel zu spät, dass die Maultierführer glaubten, sie und Tan wären auf eine ganz spezielle Art und Weise zusammen. Sie dachten sicher, dass sie ihrem Vater oder vielleicht ihrem eigentlichen Ehemann ausgerissen war. Als sie sich dessen bewusst wurde, wollte sie die Leute entsetzt und gekränkt über diesen Sachverhalt aufklären. Ehe sie jedoch Gelegenheit dazu fand, zog Tan ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er fasste sie an der Hand und stärkte die Maultierführer noch in ihrer Annahme, indem er eine gebändigte Haltung nervöser, halb-verlegener Selbstgefälligkeit an den Tag legte, was die unzutreffende Vorstellung auch jenen Personen nahegelegt hätte, die weniger romantisch eingestellt waren. Die Maultierführer reagierten mit noch stärkerer Erheiterung und wurden noch entgegenkommender. Maianthe lächelte, bis ihr das Gesicht wehtat.
Sie war zu wütend, um mit Tan zu reden, als sie endlich die Wagen zurückließen und den nächsten geschickt angelegten Anstieg hinaufritten.
»Es ist sehr günstig für uns, wenn sie davon ausgehen …«, hob Tan an, sobald sie ein gutes Stück entfernt waren.
»Ich weiß«, presste Maianthe zwischen den Zähnen hindurch.
»Es ist nur praktisch …«
»Ich weiß!«, erklärte Maianthe und klappte die Kapuze hoch, um deutlich zu machen, dass sie nicht besänftigt werden wollte.
Sie sprachen nicht mehr miteinander, bis sie auf halbem Weg durch den Pass waren und das Hinweisschild auf ein einladendes Wirtshaus mit Stallungen erreichten. Zwölf Laternen brannten beiderseits der Straße, die müden Reisenden den Weg aus der Kälte wiesen.
Das Wirtshaus war an einer tiefer gelegenen Stelle errichtet worden, wo in allen Richtungen ringsherum die Berge in dichten Reihen anstiegen. Die von Eis glitzernden Berge schimmerten rosa und golden im späten Licht der tiefstehenden Sonne; veilchenblaue Schatten breiteten sich zwischen und hinter ihnen aus, und die weiter nach Osten führende Straße schien in Gold hervorgehoben, wo sie sich an der Flanke des nächsten Berges hinaufschlängelte. Und wo die Straße in großer Höhe eine Schlucht überspannte, sah die Eisenbrücke wie ein tiefschwarzer Faden aus.
Die Stallungen erhoben sich hinter dem Wirtshaus, das zwei lange Flügel aufwies: Der eine wies schräg nach Osten, der andere schräg nach Westen. Die beiden vereinigten sich in einem ansehnlichen dreistöckigen Haus aus behauenem Naturstein mit geschnitzten Holztüren und echtem Glas in den Fensteröffnungen, die im Sonnenlicht golden flammten. Insgesamt war das Wirtshaus größer als Maianthes Elternhaus, sehr viel eleganter als das große Haus in Tiefenau und kunstvoller angefertigt als alles, was Maianthe jemals inmitten eines schroffen Gebirgspasses erwartet hätte, selbst neben der guten neuen Straße.
Maianthe war wortlos und schaute sich verwundert um.
Tan sagte leise: »Oh, könnten wir uns auf Adlerflügeln emporschwingen, über die Höhen hinaus, wo die aufgehende SonneMusik aus dem Gestein schlägt, um dann in der Stille, die Gesang ist, wieder hinabzusinken.«
»Oh«, entfuhr es Maianthe leise. Einen Augenblick später erklärte sie: »Wenn es ein Gedicht gibt, in dem das hier …« – sie deutete mit ausgebreiteten Händen auf die Berglandschaft ringsherum – »... einen Widerhall findet, dann musst du es mich eines Tages wirklich lehren.«
Tan nickte und gab daraufhin zu bedenken: »Es wäre vielleicht klüger, wenn wir nicht in diesem
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