DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
seiner tiefliegenden Augen ging weit über Zorn hinaus.
Der Gefangene aus Linularinum prallte vom König zurück, woraus ihm Maianthe nicht den geringsten Vorwurf machte. Sie wäre selbst zurückgewichen, wenn sie den Bewegungsspielraumdazu gehabt hätte. Dann jedoch streckte der Gefangene unvermittelt die beiden gefesselten Hände nach unten und skizzierte schnell mit einer Fingerspitze eine Schriftzeile auf den Fußboden. Die Buchstaben, die der schreibende Finger erzeugte, wirkten scharf, eckig, schartig – ganz und gar nicht wie normale Buchstaben. Sie waren schwarz, aber es war nicht das glänzende Schwarz frischer Tinte. Es war ein seltsames, körperloses, leeres Schwarz, als schnitte der Mann schmale, aber bodenlose Ritzen direkt ins Gestein, sodass die Schwärze im Herzen der Erde hindurchschien.
Für Maianthe hatte es den Anschein, als kippte die ganze Welt auf einmal um. Maianthe verlor nicht das Gleichgewicht; eine solche Bewegung war das nicht. Aber alles schien zu stocken, und die Ritzen breiteten sich schnell im Gestein aus und klafften weit offen – sie glaubte, jemanden rufen und jemand anderen fluchen und wieder jemand anderen brüllen zu hören; oder vielleicht ging das auch alles von ein und derselben Person aus. Maianthe schien in einem zeitlosen Augenblick gefangen zu sein, der weder Angst noch Bewegung Platz bot, während ringsherum panische Geräusche wogten, aber in diesen Moment nicht eindringen konnten. Sie schien zuzusehen, wie die leeren schwarzen Buchstaben im Gestein länger wurden: Wie Messerschnitte liefen sie auf Tan zu. Maianthe war jedoch weder entsetzt, noch geriet sie in Hektik. Sie schien alle Zeit der Welt zu haben, um zu reagieren; tatsächlich schien sie die einzige Person im Raum, die sich bewegte oder sich bewegen konnte . Verträumt durchquerte sie die schräg liegende Welt, um die schwarze Schrift abzufangen, ehe sie Tan erreichte. Sie bückte sich und zeichnete eine Spirale auf dem Fußboden, um die scharfen Buchstaben einzufangen. Dann richtete sie sich auf und verfolgte still die weiteren Ereignisse.
Die schwarzen Buchstaben erreichten ihre Spirale und liefenhinein. Die tief eingeschnittene Schrift raste auf den Windungen der Spirale in die Tiefe und verschwand im Innern der Erde, und das geschliffene Gestein schloss sich über ihnen. Auf einmal stürmte auch die Zeit wieder los, und die Welt kippte mit Wucht in den ursprünglichen Winkel zurück: eine gewaltige, lautlose Erschütterung. Maianthe taumelte.
Ehe sie stürzen konnte, packte Tan sie kraftvoll am Ellbogen und hielt sie fest, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Tan blickte allerdings nicht sie an, sondern den Agenten aus Linularinum – einen Magier, wie Maianthe verspätet bemerkte. Oder nein, in Anbetracht der seltsamen Schrift war es natürlich ein Rechtskundiger. Dann folgte sie Tans Blick und stellte fest, dass es jetzt nicht mehr darauf ankam und diese Erkenntnis zumindest keinem unmittelbaren praktischen Zweck mehr dienen konnte. Vor Schreck oder Grauen oder Entrüstung hatte einer der Wachmänner dem Linulariner die Kehle durchgeschnitten. Ein mächtiger Schwall dunkelroten Blutes spritzte auf den Steinboden, füllte die tief eingeschnittenen Buchstaben, die der Agent dort hineingeschnitten hatte, und floss dann weiter über den Fußboden.
Inzwischen existierte kein Hinweis mehr darauf, dass die geschnittenen Buchstaben jemals auf Tan zugelaufen waren. Eine kristallene Spirale steckte jedoch einen Schritt entfernt von der Stelle, wo er und Maianthe standen, im Steinfußboden. Sie übertraf an ihrer breitesten Stelle nicht eine Handspanne: eine perfekte Spirale aus Rauchquarz, die direkt ins geschliffene Granit eingelassen war und sich immer weiter in sich hineindrehte, bis in ihrem Zentrum das feine Muster so dünn geworden war, dass man es nicht mehr erkannte. Tan blickte auf die Spirale hinab, die Brauen verwirrt zusammengezogen. Dann schaute er zu Maianthe auf. Seine Miene verriet keine Überraschung. Er nickte ihr nur kurz anerkennend zu: Du hast es wieder mal getan, n icht wahr? Als hätte er nicht weniger erwartet. Maianthe wurde rot.
Auch der Arobarn starrte einen Augenblick lang auf die Spirale. Dann wandte er den Kopf, um den Toten und das Blut anzusehen und schließlich den Wachsoldaten, der den Mann getötet hatte.
Der Soldat senkte den Kopf; er schien unsicher zu sein, ob er um Verzeihung bitten sollte. Er trat vor und hielt den Griff des blutigen Messers dem König
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