Der Grenzgänger
wurden. Dieser Roman war inzwischen von der Realität überholt worden. Durch die neuen, scheinbar fälschungssicheren Europaführerscheine im Scheckkartenformat waren derartige Machenschaften in deutschen Rathäusern nicht mehr möglich. Aber zum Zeitpunkt des Erscheinens prangerte der Roman eine durchaus mögliche Situation an, bei der Bürgermeister und Stadtdirektor selbstverständlich auch dieses Mal ihre weiße Weste behielten.
Mir gefiel die raffinierte Art und Weise, wie Fleischmann mit den Verbrechen spielte, seine Geschichten in einem Rathaus konstruierte und seinen Einzelgänger am Ende mit großem Wissen, aber ohne Beweise stehen ließ. Die Geschichten stammten aus einer Zeit Ende des letzten Jahrtausends, als es noch die Trennung zwischen dem Amt des Bürgermeisters und dem des Stadtdirektors gab, waren also, je nach Kommune, ein bis drei Jahre alt.
Oder hatte der Autor etwa absichtlich auf die Zusammenlegung der beiden Ämter verzichtet? Ich traute ihm diesen Winkelzug durchaus zu, damit zeigte er, dass die geschilderten Geschehnisse fiktiv waren; jedenfalls konnte niemand in den Rathäusern behaupten, er sei in den Romanen beschrieben worden.
Ich fand es allerdings mehr als unwahrscheinlich, dass sich alle diese Verbrechen in einer einzigen Stadt, in einem einzigen Rathaus und dann vielleicht auch noch in der Region ereignet haben sollten. „So viel kriminelle Energie gibt es in keinem Rathaus. Oder glaubst du etwa, in Aachen wäre so etwas möglich?“ fragte ich Sabine, die mich, vom intensiven Lesen erschöpft, ansah.
„Nachdem ich die Romane gelesen habe, glaube ich alles und nichts mehr“, stöhnte sie. Sabines Antwort zeigte mir, dass Fleischmann bei seinen Lesern Wirkung hinterließ. Er verunsicherte sie, ließ sie zweifeln an dem, was um sie herum in Politik und Verwaltung geschah.
Warum aber waren diese Romane, in denen selbstverständlich nicht der Hinweis fehlte, dass Personen und Handlungen erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen rein zufällig seien, für Kommissar Böhnke Anlass gewesen, unterzutauchen? Steckte etwa mehr hinter den Romanen, als ich und Sabine glaubten? Hatte Fleischmann vielleicht doch die Realität geschildert? Ich erinnerte mich an die Worte der Lektorin. Fleischmann hätte sich bei seinem letzten Roman, dessen Veröffentlichung unmittelbar bevorstand, wohl zu weit aus dem Fenster gebeugt, hatte sie gesagt. Hieß das etwa, dass sich jemand gerächt hatte, der in den bisherigen Romanen eine Rolle spielte und der nun entlarvt wurde? Gab es tatsächlich diesen Bürgermeister und den in den Geschichten beschriebenen Stadtdirektor, oder eine ähnliche Konstellation zwischen Politik und Verwaltung, deren verbrecherischen Machenschaften Fleischmann auf die Spur gekommen war? Musste Fleischmann deshalb sterben? Andererseits, so fragte ich mich: Woher wusste der vermeintlich Entlarvte vom Inhalt des neuen Romans?
Antworten würden wir in De Haan nicht finden. „Ich meine, es ist besser, wenn wir nach Hause fahren“, schlug ich nach vier Erholungstagen an der stürmischen Nordseeküste vor. „Sofort“, sagte Sabine eilig, „vielleicht beschäftigst du dich in deiner Wohnung mehr mit mir als hier, du lahmer Langweiler.“
Wir hatten kaum die Wohnungstür geöffnet und das Gepäck in meine kleinen Räume hineingeschoben, als auch schon das Telefon auf sich aufmerksam machte.
„Endlich zurück?“, fragte mich Böhnke erleichtert zur Begrüßung, ohne eine Antwort zu erwarten. Der Kommissar hatte das dringende Bedürfnis, sich mit mir zu treffen. „Morgen bei Christian Maria Wagner.“
„Bei wem?“ Der Name sagte mir überhaupt nichts. „Bei Christian Maria Wagner, dem Inhaber des Christian-Maria-Wagner-Verlags in Baesweiler. Bei ihm hat Fleischmann seine Romane verlegen lassen“, fügte er überflüssigerweise hinzu.
Gerne erklärte ich mich bereit, Böhnke zu begleiten. Wenn er mich darum bat, hatte er sicherlich einen Grund. Außerdem hatte ich noch ernsthaft mit ihm zu reden.
Ob ich schon in den Briefkasten geschaut hätte, fuhr der Kommissar fragend fort. Als ich verneinte, empfahl er mir, so rasch wie möglich einen Blick hineinzuwerfen. „Sie finden darin das neueste Werk von Fleischmann, das in Frankfurt vorgestellt werden sollte.“
Ich stutzte. „Wieso können Sie mir das Buch zustecken? Es ist doch noch gar nicht erschienen?“
Böhnke lachte. „Das ist wirklich kein Problem. Sie brauchen nur einen
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