Der Grenzgänger
Buchhändler gut zu kennen und schon erhalten Sie ein unverkäufliches Leseexemplar. Ich habe mir eines besorgt.“
Der Roman handelte bestimmt wieder von der fiktiven Stadt in der Region und den beiden vermeintlichen oder wahrscheinlichen Bösewichten, dem Stadtdirektor und dem Bürgermeister, vermutete ich und Böhnke bestätigte mich. „Fleischmann hatte Erfolg mit seiner Serie. Warum sollte er seine Figuren wechseln?“, meinte der Kommissar. „Wieder reine Fiktion oder wieder umgestaltete Realität?“, fragte ich.
Böhnke schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Das kann ich nicht beurteilen“, sagte er endlich langsam, „manchmal scheint es,…“ Er räusperte sich und wurde kurz angebunden. „Ich weiß es beim besten Willen nicht, Herr Grundler.“
Bei mir klingelten sofort wieder aus unerklärlichen Gründen die Alarmglocken. Ich glaubte Böhnke nicht, er wusste mehr, als er mir am Telefon sagen wollte, aber ich traute mich nicht, ihm das zu sagen. Eventuell bestand morgen die Gelegenheit zu einem vertiefenden Gespräch, nachdem ich das sechste Werk gelesen hatte, beruhigte ich mich.
Wir verabredeten uns für vierzehn Uhr.
Ich legte auf, eilte zum Postkasten und entnahm das kleine Paket, das Böhnke offensichtlich selbst eingeworfen hatte.
Der Kommissar hatte das Buch in einen Lokalteil der AZ eingewickelt. Absichtlich, wie ich annahm.
Es handelte sich um den Teil, in welchem Sümmerling über den Unfall der Lektorin schrieb und in seinem Artikel die vage Vermutung äußerte, es könne sich um einen Anschlag gehandelt haben.
Schnell packte ich das Taschenbuch aus, setzte mich in einen bequemen Sessel und begann zu lesen. Ich bekam nur am Rande mit, dass Sabine um mich herumwuselte, lange ungehalten neben mir saß und dann verärgert zu Bett ging. Erst spät in der Nacht beendete ich die Lektüre und pustete kräftig durch.
Das war schon starker Tobak, den Fleischmann da seinen Lesern aufgetischt hatte. Die Geschichte rankte sich um eine gescheiterte Firmenansiedlung in einem entstehenden Gewerbegebiet. Die mit großem Getöse von Fleischmanns Lieblingsfiguren, dem Bürgermeister und dem Stadtdirektor sowie einem Parlamentarischen Staatssekretär des Landes, angekündigte Ansiedlung eines modernen Chemiekonzerns war geplatzt, nachdem etliche Millionen Mark, die das Land als Subventionen gewährt hatte, verschwunden waren. Zum Großteil waren damit Schulden anderer maroder Unternehmen getilgt worden, die von den beiden Investoren in den finanziellen Ruin getrieben worden waren, andere Millionen waren in dunklen Kanälen versickert. In seiner Konstruktion brachte Fleischmann die beiden Subventionsbetrüger in einen freundschaftlichen Zusammenhang mit dem Bürgermeister, dem Stadtdirektor und dem Staatssekretär. Auch ließ der Autor nicht die Vermutung aus, es bestehe sogar eine innige Männerfreundschaft zwischen den kriminellen Investoren und dem Ministerpräsidenten.
Nach alledem, was in den letzten Jahren über die Wirtschaftsförderung in unserem Bundesland zu lesen gewesen war, wollte ich nicht absolut ausschließen, dass an Fleischmanns Geschichte etwas Wahres dran war. Letztendlich fehlte nur der letzte Funken, der das Pulverfass explodieren lassen könnte, fehlte das letzte Mosaiksteinchen, dass die Geschichte zur wahren Begebenheit gemacht hätte. Vielleicht war Fleischmann auf der Suche nach diesem Steinchen gewesen, vielleicht hatte er eine wahre Geschichte geschrieben, für die ihm nur der letzte Beweis fehlte. Vielleicht war das der Grund, weshalb er letzten Endes sterben musste. Vielleicht hatten tatsächlich einige Funktionsträger Dreck am Stecken, war die Realität in Fleischmanns Romanen manch einem näher als sie ihm lieb sein konnte. Vielleicht…
Ich schüttelte mich. ,Deine eigene Fantasie geht mit dir durch, Tobias!’, brachte ich mich zur Besinnung. ,Auch du fällst auf Fleischmann rein.’ Aufrichtig bewunderte ich den Krimischreiber, er hatte es geschafft, sogar mich mit seiner Erzählart zu verunsichern. Der Übergang in die Scheinwelt war derart fließend, dass ich höllisch aufpassen musste, nicht den Sinn für die reale Welt zu verlieren.
Ich war gespannt, was Böhnke von dem Buch hielt, sagte ich mir mit einem Blick auf die Uhr, der mich erschrecken ließ. Es war fast schon wieder Morgen. Schnell sprang ich ins Bett, um wenigstens noch einige Stunden Schlaf zu finden.
Christian Maria Wagner
Der einzige und einzigartige Geheimagent
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