Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika
(Die Initiative war eine allzu offensichtliche Tarnung für Kostensenkungen im Gesundheitsbereich.) An diesem Morgen hatte er vergessen, seine Medizin zu nehmen. Später war er über seine eigene Tat entsetzt. Wenn ich jemals Zweifel an meinen Reiseplänen gehabt hatte, waren sie damit endgültig ausgeräumt. Südamerika konnte kaum heruntergekommener und gefährlicher sein als London, und wenn irgendein Wahnsinniger mich mit einem 25 cm langen Messer durchs Auge stechen würde, wollte ich vorher wenigstens noch etwas von der Welt sehen.
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Inner City Blues ( die graue Politik )
Reiseschriftsteller packen gern einen längst vergessenen Band eines unbedeutenden Forschers aus dem 19. Jahrhundert ein, um bei passender Gelegenheit daraus zu zitieren. Ich habe schon viele Bücher über Südamerika gelesen: Vor, während und nach meiner Reise. Ich las Bücher über die Rolle des Urins in der Symbolik der amerikanischen Ureinwohner und andere über den rituellen Gebrauch halluzinogener Einläufe im Amazonasgebiet. (Halluzinogene Einläufe? Keine schlechte Idee!) Aber das Buch, das ich unterwegs bei mir hatte, war Eduardo Galeanos neomarxistischer 93 der gringo trail Klassiker, Open Veins of Latin America („die offenen Adern Lateinamerikas“) – ein Buch, das zugleich grausam, akademisch und poetisch ist. Anstatt von viktorianischen Harrison Fords zu erzählen, die sich zu verlorenen Städten durchschlagen, mutete ich Melissa Vorträge über den Preis peruanischen Nitrats auf den Rohstoffmärkten des 19. Jahrhunderts zu. Sie konnte damit umgehen. Politik hatte mich schon immer interessiert. Das bestätigte sich, als ich einem ehemaligen Mitschüler der Grundschule begegnete, den ich mit 10 zuletzt gesehen hatte. „Bist du immer noch ein Kommunist?“, fragte er. War ich mit 10 Jahren schon ein Kommunist gewesen? In Bezug auf seine Frage war ich mir nicht ganz sicher, aber ich hatte immerhin drei Jahre in der vorgeblich sozialistischen Druckerei-Kooperative in Hackney verbracht.
Neben unserer eigenen Zeitung hatten wir Flugblätter für Mieterorganisationen, Schwule, Grüne, Anarchisten, schwule grüne Anarchisten, Hausbesetzer, Hexen, lesbische grüne Hexen, chassidische Juden und so ziemlich jede hier vertretene ethnische Gruppe produziert. 15
---15 In Hackney gab es natürlich jede Menge davon. Im Rahmen einer Studie fand man z.B. an einer örtlichen Schule 170 verschiedene Sprachen unter den Schülern.
Ich saß in endlosen „Gemeindeversammlungen“, in denen die chassidischen Juden totales Chaos stifteten, indem sie Homosexualität als „unnatürlich“ brandmarkten. Schließlich gaben wir den Kampf auf und redeten nicht mehr miteinander.
Ich verbrachte die nächsten paar Jahre mit eintönigen Jobs und wartete auf etwas anderes, dem ich mich verschreiben konnte. Aber da es nur noch um Steuersenkungen und Privatisierungen ging, war Großbritannien in den frühen Neunzigern kein Ort mehr für Idealisten. Wir hatten den kalten Krieg gewonnen und verloren. Der Kommunismus war tot. Ein idiotisches Wahlrecht und die Feigheit der Labour Party sorgten dafür, dass grüne Themen keine Rolle spielten. Die Ecstasy/Rave Szene schien Groß britanniens einzige dynamische Bewegung zu sein, schien aber wenig zu bieten – außer dass man für ein oder zwei Nächte bis zur Bewusstlosigkeit tanzte. Was völlig OK war. Aber es waren verzweifelte Zeiten. Es fehlte etwas.
Meine Freunde machten Karriere, hatten feste Partner, Häuser und Familien. Gerade als alle Leute wussten, dass wir heiraten wollten, trennte ich mich von meiner langjährigen Freundin. Dann heiratete sie ebenfalls. Ich fühlte mich einsam. Ich hielt immer noch mich selbst für normal und die Welt für verrückt – obwohl mir zu meiner Bestürzung allmählich klar wurde, dass meine Freunde das Gegenteil dachten (und zwar in beiderlei Hinsicht). Mich persönlich belastete das immer noch nicht. Ich kannte die Wahrheit. Unsere Welt – unsere westliche Welt – war verrückt. Ich konnte mich nicht für eine Karriere und eine Rente begeistern. Ich brauchte irgendeinen Funken, einen Kreuzzug, ein Ideal. Überall um mich her sah ich eine Gesellschaft, die ihren Sinn für einen gemeinsamen Zweck – ihren Gemeinsinn – verloren hatte. In der die Zukunft nicht weiter reichte als bis zur nächsten Jahresbilanz. Eine „unnatürliche“ Gesellschaft im wörtlichen Sinn: In der die Kinder aufwuchsen, ohne jemals auf einen Baum gestiegen zu sein oder die
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