Der größere Teil der Welt - Roman
sie die Tür zu ihrer Wohnung in Berkeley öffnet und in den Geruch von köchelnden Linsen hineingeht, einer jener billigen Eintöpfe, von denen sie und ihre Mitbewohnerinnen sich ernähren. Sie wird sich auf eine durchgesessene Couch, die sie auf der Straße gefunden haben, fallen lassen und beim Auspacken ihrer vielen Bücher feststellen, dass sie in den Wochen, in denen sie sie durch Afrika geschleppt hat, so gut wie nichts gelesen hat. Und beim Klingeln des Telefons wird ihr Herz einen Sprung machen.
Strukturelle Unzufriedenheit: Rückkehr in die Umstände, die einem früher einmal gefallen haben, und die Erkenntnis, dass man diese Umstände nicht mehr ertragen kann, nachdem man einen aufregenderen oder luxuriöseren Lebensstil kennengelernt hat.
Aber wir kommen vom Thema ab.
Angezogen vom Pulsieren des Lichts und der Musik der Open-Air-Disco jagen Rolph und Charlie über den Strand. Sie rennen barfuß in die Menge hinein und hinterlassen puderfeinen Sand auf dem durchscheinenden Tanzboden über einem bunten Glitzermosaik. Der hämmernde Bass bringt Rolphs Herzschlag aus dem Rhythmus.
»Na los«, sagt Charlie. »Tanzen wir.«
Sie macht ihm wellenförmige Bewegungen vor – so, wie die neue Charlie tanzen will, wenn sie wieder nach Hause kommt. Aber Rolph ist das peinlich, er kann so nicht tanzen. Die restliche Gruppe schließt sich um sie zusammen: Die mollige Louise, ein Jahr älter als Rolph, tanzt mit dem Schauspieler Dean. Ramsey schlingt seine Arme um eine Frau aus der Phoenix-Fraktion. Lou und Mindy tanzen eng, ihre Körper berühren einander, aber Mindy denkt an Albert, wie sie das hin und wieder tun wird, wenn sie mit Lou verheiratet ist und schnell hintereinander, wie im Wettlauf gegen das unvermeidliche Abschweifen seines Interesses, zwei Töchter bekommt, sein fünftes und sechstes Kind. Da er kein Geld auf dem Konto hat, wird Mindy am Ende in einem Reisebüro arbeiten müssen, um ihre kleinen Mädchen zu ernähren. Eine Zeitlang wird ihr Leben ziemlich freudlos sein: Die Mädchen werden ihrer Ansicht nach zu viel weinen, und sie wird sehnsüchtig an diese Reise nach Afrika denken, den letzten glücklichen Moment in ihrem Leben, als sie noch frei und ungebunden war. Sie wird sinnlos und vergeblich von Albert träumen und sich fragen, was er zu bestimmten Zeiten wohl macht, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie mit ihm durchgebrannt wäre, wie er halb im Scherz vorgeschlagen hatte, als sie ihn auf Zimmer Nummer drei besuchte. Später wird sie natürlich »Albert« einfach als Inbegriff des Bedauerns über ihre eigene Unreife und ihre katastrophalen Entscheidungen erkennen. Als ihre beiden Kinder die Highschool besuchen, wird sie ihr Studium endlich wieder aufnehmen, wird an der UCLA promovieren und mit fünfundvierzig eine akademische Karriere beginnen. Im Lauf der nächsten dreißig Jahre wird sie lange Zeit zur Feldforschung über soziale Strukturen im brasilianischen Regenwald verbringen. Ihre jüngste Tochter wird für Lou arbeiten, von ihm protegiert werden und seine Firma erben.
»Sieh mal«, sagt Charlie durch die Musik zu Rolph. »Die Vögelbeobachterinnen beobachten uns.«
Mildred und Fiona sitzen in ihren langen geblümten Kleidern auf Stühlen neben der Tanzfläche und winken Rolph und Charlie zu. Die Kinder sehen die beiden zum ersten Mal ohne Ferngläser.
»Die sind sicher zu alt zum Tanzen«, sagt Rolph.
»Oder vielleicht erinnern wir sie an Vögel«, sagt Charlie.
»Oder vielleicht beobachten sie Leute, wenn keine Vögel da sind«, sagt Rolph. »Komm schon, Rolphus«, sagt Charlie. »Tanz mit mir.«
Sie packt seine Hände. Als sie sich zusammen bewegen, merkt Rolph, wie seine Befangenheit auf wundersame Weise verfliegt, als werde er hier auf der Tanzfläche erwachsen, ein Junge, der mit Mädchen wie seiner Schwester tanzt. Charlie merkt das auch. Und sie wird dann für den Rest ihres Lebens, lange nachdem Rolph sich mit achtundzwanzig im Haus ihres Vater eine Kugel in den Kopf geschossen hat, wirklich immer wieder zu dieser besonderen Erinnerung zurückkehren: Wie ihr Bruder als Junge, die Haare platt an den Kopf geklatscht, schüchtern tanzen lernt. Aber die Frau, die sich erinnert, wird nicht mehr Charlie sein: Nach Rolphs Tod wird sie ihren wirklichen Namen wieder annehmen – Charlene – und sich für immer von dem Mädchen ablösen, das in Afrika mit seinem Bruder getanzt hat. Charlene wird sich die Haare kurz schneiden und Jura studieren. Als sie einen Sohn auf die
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