Der Große Basar: Roman
glich er ganz und gar nicht den schlanken, sehnigen dal’Sharum .
Die Nacht hatte sich herabgesenkt, als sie die Zeltklappe hochschlugen und hinausspähten. Aus der Ferne hörte Arlen die Signalhörner der dal’Sharum und die
gebrüllten Meldungen der Artillerie und hätte sich am liebsten in den Kampf gestürzt.
Eine größere Gefahr gibt es nicht, warnte die Stimme in seinem Kopf, und ausnahmsweise pflichtete Arlen seinem Vater bei. Alagai’sharak war ein herrlicher Wahnsinn, doch ohne die Kampfsiegel aus der alten Zeit blieb der Krieg gegen die Horclinge ein im Grunde sinnloses, aberwitziges Wagnis. Allerdings fand er die Art und Weise, wie die Leute im Norden sich jede Nacht hinter Siegeln verschanzten, auch nicht vernünftiger. Im offenen Kampf verloren die Menschen ihr Leben, und durch das feige Versteckspiel starben ihre Seelen ab. Es musste einen dritten Weg geben, um dem Bösen zu trotzen, doch nur die alten Siegel konnten ihnen dabei helfen, ihn zu beschreiten.
Mit einem kleinen, von einem Kamel gezogenen Karren fuhren sie an ihren Bestimmungsort. Um den Lärm möglichst gering zu halten, waren die Hufe des Kamels und die Wagenräder mit Lederpolstern umwickelt und verursachten so auf den staubigen, mit Sandstein gepflasterten Straßen nur ein leises, knirschendes Geräusch. Während sie den Stadtkern durchquerten, wagten sie es nicht, ein Licht anzuzünden, aber über der Wüste glitzerte ein Sternenmeer, und das Flackern der Siegel im Labyrinth erinnerte an Blitze in einem Unwetter, die in unregelmäßigen Abständen aufflammten und ihre Umgebung in einen grellen Schein tauchten.
»Wir treffen Jamere am Sharik Hora, dem Tempel der Gebeine der Helden«, flüsterte Abban. »Weit kann er sich von den Zellen der Schüler nicht entfernen.«
Arlen verspürte einen vorübergehenden Anflug von schlechtem Gewissen. Der gigantische Sharik Hora war Tempel und Begräbnisstätte zugleich, die gesamte Konstruktion bestand aus dal’Sharum , die im alagai’sharak gefallen waren. Der Mörtel war mit ihrem Blut vermischt. Aus ihren Knochen und ihrer Haut hatte man die Einrichtung gefertigt. Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Kriegern hatten ihr Leben für das Ideal geopfert, das der Tempel versinnbildlichte, und ihre Körper gegeben, damit man aus ihnen die Wände und die gewaltige Dachkuppel baute.
In Fort Krasia gab es keinen heiligeren Ort als den Sharik Hora, und er, Arlen, schlich sich im Schutz der Nacht dorthin, um etwas daraus zu stehlen. Mit dem Ziel, Anochs Sonne zu finden und auszurauben, wie er bereits Baha kad’Everam geplündert hatte.
Ist das alles, was ich bin?, fragte sich Arlen. Ein Grabschänder? Ein Mann ohne Ehre?
Fast hätte er Abban gebeten, umzukehren. Doch dann dachte er an den riesigen Tempel, und daran, dass die dal’Sharum mittlerweile nicht einmal mehr alle Plätze dort füllen konnten, weil sie dabei waren, sich in einem endlosen Zermürbungskrieg zu verzetteln. Und das nur, weil eine Gruppe Heiliger Männer wertvolles Wissen zurückhielt. Die Fürsorger im Norden waren nicht viel besser, und Arlen hatte niemals Bedenken gehabt, ihre Vorschriften zu brechen.
Es sind ja nur Kopien, beruhigte er sich selbst. Ich stehle nicht, ich zwinge diese Leute nur, ihre Kenntnisse mit mir zu teilen.
Trotzdem begehst du ein Unrecht, beharrte die Stimme in seinem Kopf.
Sie ließen den Karren in einer zwei Block entfernten Gasse stehen und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück. Die Straßen waren menschenleer. Als sie sich dem Tempel näherten, band Abban ein helles Stück Tuch an das Ende seines Speers und schwenkte es hin und her. Nicht lange, und aus einem Fenster im zweiten Stock winkte jemand mit einem ähnlichen Stofffetzen.
»Hier entlang, schnell«, wisperte Abban und hinkte auf das Fenster zu, so schnell es sein lahmes Bein erlaubte. »Wenn sie Jamere außerhalb seiner Zelle aufgreifen …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber Arlen konnte sich den Rest auch ohne viel Fantasie vorstellen.
Als sie sich mit dem Rücken gegen die Tempelwand pressten, wurde aus dem Fenster ein dünnes seidenes Seil heruntergelassen. Der Junge, der daran nach unten glitt, mochte zwar mager sein, aber er bewegte sich mit der geschmeidigen Anmut eines Kriegers. Die dama beherrschten meisterhaft die brutale krasianische Kunst des waffenlosen Nahkampfs, der als sharusahk bezeichnet wurde. Arlen hatte diese Technik bei den bedeutendsten Lehrern unter den dal’Sharum studiert, doch
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