Der große deutsche Märchenschatz
der Ãbermütigen seinen Gipfel erreichen. Selbst der Himmel brach gegen sie los, dichter Regen strömte auf sie herab. Mit Trauer sahen Nussknacker und seine Gemahlin aus ihrer Staatskutsche, wie die GieÃbäche auf dem Wege anschwollen, wie ihre Untertanen, Häuser und Geräte im wilden Strudel an ihnen vorbeigetrieben wurden, wie von den Ihrigen einer nach dem anderen den Mühseligkeiten des Marsches erlag, in Abgründe stürzte oder in Wurzeln, Brennnesseln und Laubabfall sich verwickelte und elendiglich umkam. Bald war Nussknackers ganzes Volk zugrunde gegangen. â Auch er fuhr nur noch wenige Schritte. Der Regen löste die geleimten Fugen der Kutsche auf, und das fürstliche Paar ward von der Wasserflut ergriffen. Erst jetzt erwachte wieder, durch die Not geweckt, der frühere kräftige Naturgeist der Prinzessin. Wie war sie sonst bei solchem Wetter jauchzend umhergesprungen und den Wellen entgegengeschwommen! â Mit der einen Hand fasste sie nur noch eben den Zopf ihres Mannes, mit der anderen einen Zweig. Schnell wollte sie sich mit ihm auf eine höhere Baumwurzel emporschwingen. Aber ach! selbst das Haar des geängstigten Fürsten war nicht mehr stark genug! Den Zopf behielt sie in der Hand, ihren Mann sah sie von den Strudeln fortgetrieben, und bald war er ihren Blicken entschwunden.
Erst rief sie ihm klagend nach, dann aber erregte sich ihr ursprüngliches Wesen umso kühner. Sie zerriss die läppischen modischen Kleider, die, vom Regen durchnässt, ihre schlanken kleinen Glieder beengten. Rasch wickelte sie sich in die ersten besten Blätter und kletterte schnell wie ein Eichkätzchen einen alten Baum hinauf, in dessen Astloch sie Schutz suchte gegen das Unwetter und die hereinbrechende Nacht.
Sechstes Kapitel
Der Vogelsteller und seine Familie. â Wie die Kinder mit selt-samen Schätzen heimkehren. â Die Leiche Nussknackers. â Das
Weibchen aus dem Kranichneste und wer es gewesen. â Rührende
Versöhnung auf der Nusswiese. â Drohende Gefahr für die
Wurzelmänner. â Wie die Wurzelmänner auswanderten
.
Zu derselben Zeit, als sich alle diese wunderbaren Dinge ereigneten, lebte am Ausgange des eben beschriebenen Waldes ein alter Vogelsteller mit seiner Familie. Seit den zwei Jahren, dass er sich hier angesiedelt hatte, war es ihm mit seinem Geschäft vortrefflich gegangen, und besonders im Frühling und Herbst waren so viele Vögel in seine Netze geflogen, dass er damit manchen Taler Geldes verdient, manchen Sparpfennig zurückgelegt hatte.
Nun war einmal an einem Frühlingstage ein sehr heftiger Regen gefallen, und seltsamerweise lieà sich seit jenem Tage kein Vogel mehr bei ihm sehen; seine Netze fand er des Morgens immer zerrissen, seine Leimruten verdorben, und selbst sein Uhu und die übrigen Lockvögel waren seit einiger Zeit aus ihren Käfigen und von ihren Stangen verschwunden. Und doch wohnte, wie er wohl wusste, kein Mensch im ganzen Walde, der das hätte tun können.
Einstmals hatte er seine Kinder mit der Holzkarre tiefer in den Wald geschickt, um Reisig zu suchen.
Es war Abend, sie kamen und kamen nicht wieder. Schon fing es an dunkel zu werden, und weil sie noch immer nicht da waren, überfiel ihn groÃe Angst, und er beschloss, sie zu suchen. Er setzte eben den Fuà vor die Tür, da hörte er aus dem Walde ein Jauchzen und Lärmen. Gottlob! es waren seine lieben Kinder, die die Holzkarre hoch bepackt heranzogen und vor sich herschoben.
»Ihr Tausendsappermenter, wo bleibt ihr denn?«, fuhr er sie halb ärgerlich, halb erfreut an; sie aber lachten, und indem sie das grüne Reisig, womit sie die Karre oben bepackt hatten, hinwegnahmen, riefen sie, ganz rot im Gesichte vor lauter Vergnügen: »Schau einmal, Vater, was wir haben.« Und siehe da, der ganze Wagen war mit zerbrochenem, verbogenem und zernagtem Spielwerk von unten bis oben angefüllt.
Und nun ging das Erzählen der Kinder an. Der Sinn ihres Durcheinanderschreiens war der: Nachdem sie sich verirrt, wären sie in ein schmales ebenes Tal gekommen, das sich wie ein FuÃweg in den Wald verloren. Es sei dort noch ganz schlammig vom letzten Regen gewesen. Da hätten sie denn alle diese Herrlichkeiten in buntem Gemisch durcheinanderliegend gefunden, und wäre nicht die Sonne hinter die Tannen gegangen, so würden sie den Weg noch weiter verfolgt haben. Der habe gar nicht
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